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brittaroeder

Posted on 23.2.2021

Ganz viel Leben steckt in Michaela Abreschs jüngstem Roman „All die ungelebten Leben“. Im Mittelpunkt stehen die drei Schwestern Jana, Mascha und Selma, die nach vielen Jahren der Trennung und Entfremdung in einem Ferienhaus an der dänischen Küste zusammenkommen. Jane, die unheilbar an Krebs erkrankt ist, wünscht sich vor dem Tod, ihre Schwestern noch einmal zu sehen und alle zu einer Versöhnung zusammenzubringen. Drei Schwestern, eine schwere Familiengeschichte, belastende Geheimnisse, viele verpasste Lebenschancen und dazu noch der Tod in Gestalt einer unheilbaren und auszehrenden Krankheit – der Stoff, den Abresch ihrer Leserschaft auf knapp 500 Seiten bietet, könnte kaum umfangreicher sein. Hinzu kommt: Die Autorin macht von der ersten Seite an keinen Hehl aus ihrer Absicht, unbequeme Wahrheiten zu thematisieren und ihre Leser mit lästigen Fragen zu konfrontieren. Abreschs Roman ist wirklich keine Wohlfühl-Lektüre. Aber trotzdem gelingt es ihr, dass man sich von der ersten Seite an wohlfühlt. Mit souveräner Hand führt Michaela Abresch alle Fäden zu einer großen Erzählung zusammen. Abreschs Sprache ist leicht, an manchen Stellen sogar poetisch, aber immer einfach genug, um von der Handlung nicht abzulenken. Obwohl sie viele Emotionen darstellt, verzichtet sie geschickt auf die üblichen Klischees, wodurch sie ihren Protagonisten viel Authentizität verleiht. Und Abresch nimmt sich Zeit, viel Zeit, und ermöglicht ihren Lesern so ohne Hast mit allen Protagonisten vertraut zu werden. Nie zwingt sie einem irgendwelche Erkenntnisse auf. Geduldig hält sie sich zurück, damit man von ganz allein darauf kommt, dass keine Biografie für sich isoliert steht, und die Vergangenheit ein starkes Geflecht ist, welches bis in die Gegenwart hinein wirkt. Dabei ist ihr Umgang mit den Protagonisten wirklich schonungslos. Ihr Leiden, vor allem das der krebskranken Jane, wird bis ins kleinste Detail hinein sehr realistisch dargestellt. Trotzdem bedient Abresch dabei keinen Voyeurismus. Immer steht die Würde ihrer Figuren im Mittelpunkt. Und indem sie diese nie im Stich lässt, lässt sie auch ihre Leser nie allein. Überhaupt wirkt die starke Empathie, die Michaela Abresch durch ihre Geschichte vermittelt, wie eine feste Grundmelodie, die einen sicher durch die Geschichte trägt. Die Botschaft ist klar: Es geht darum Mut zu machen, die ungelebten Leben zu leben. Zu zeigen, dass es nie zu spät ist, etwas zu verändern. Aber in Abreschs Roman steckt noch sehr viel mehr. Sie ermutigt dazu, hinter jeder Geschichte die Geschichte dahinter zu erfragen. Verständnis zu entwickeln. Denn Abresch zeigt auch, wie es überhaupt erst zu den Versäumnissen kommt, die in ungelebte Leben münden können. Es geht um Schuld, oder vielmehr um Schuldgefühle, um die Last gefühlter Verpflichtungen, die einen daran hindert, sich frei zu fühlen und frei zu entscheiden. Mit ihrem Roman bietet Abresch ihren Lesern einen Ausweg an: Verständnis, das in Verstehen und Verzeihen mündet, kann die befreien, die sich in ihrer Schuld gefangen fühlen. Und ihnen so den Weg zum ungelebten Leben frei machen.

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