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Buchdoktor

Posted on 5.2.2021

Für den 15-jährigen Fritze, ehemaliges Straßenkind und kurzfristig Pflegesohn der Raths, zieht sich die Zeit endlos, bis er endlich volljährig ist und ihm niemand mehr Vorschriften machen kann. Inzwischen Pflegekind eines strammen HJ-Führers, wird Fritz im Sommer 1936 als Betreuer amerikanischer Leichtathleten ins Olympische Dorf abgeordnet. Der Junge verehrt Jesse Owens (weil er der beste Leichtathlet ist), hat nichts anderes im Kopf als ein Autogramm seines Idols, wird von Gleichaltrigen jedoch unbarmherzig damit konfrontiert, dass ein deutscher Junge nicht für einen schwarzen Spitzensportler zu schwärmen hat. Deutschland will sich der Welt ein letztes Mal von seiner besten Seite zeigen. Hinter vorgehaltener Hand wird jedoch geunkt, dass die Nazis nach dem Ende der Spiele die Zügel mit aller Härte anziehen werden. Als Fritz im Speisesaal Augenzeuge wird, wie ein amerikanischer Sportfunktionär tot zusammenbricht, ist für den Jungen das internationale Flair der Spiele beendet. Gereon Rath wurde inzwischen offiziell dem LKA zugeteilt – er arbeitet unwillig unter seinem ehemaligen Untergebenen Gräf. Dass er als deutscher Kriminalbeamter noch immer kein Parteimitglied ist, hätte schon längst das Ende von Raths Karriere einläuten müssen. Als der unbequeme Kriminaler für die Ermittlungen im Olympischen Dorf zum zuständigen Polizeiposten abgeordnet wird, erfreut das niemanden. Ein Kollege muss deshalb in seine Heimatstadt zurück versetzt werden, das Team fühlt sich in der Person von Rath von der Gestapo kontrolliert – und Rath selbst fremdelt noch mit seinem Einsatz als Befehlsempfänger Gräfs. Weitere Todesfälle an verschiedenen Orten werfen die Frage nach einem Zusammenhang auf und bringen Rath ganz persönlich in Gefahr. Unter dem Deckmantel der Olympischen Spiele sind aus den USA überraschend Personen eingereist, die in Berlin noch alte Rechnungen zu begleichen haben und die sich darauf verlassen, unentdeckt in den Besuchermassen untertauchen zu können. Im Privatleben der Raths kommt es derweil zu einer gefährlichen Zuspitzung, weil sowohl Charlotte als auch Gereon ihrem Partner entscheidende Dinge verschweigen, um den anderen nicht in Gefahr zu bringen. Beide Partner haben sich mit ihrem Hang zu Alleingängen in eine aussichtslose Situation manövriert - unter diesem Regime kann es nach menschlichem Ermessen für sie keinen Ausweg geben. Wäre da nicht der Prolog … Vor dem spektakulären Showdown wird Rath jedoch mit seiner Vergangenheit konfrontiert – deren Verständnis zumindest Kenntnis des 7. Serien-Bandes „Marlow“ voraussetzt. Die Figur der Charlotte Rath wirkt auf mich zwar glaubwürdig in ihrer Zerrissenheit zwischen Regimekritik und dem Zwang, irgendwie zu überleben, sie zeigt jedoch auch Züge, die ich einer Frau ihrer Bildung und ihrer Generation nicht abnehme. Im bekannten Sound vermittelt Kutscher die Atmosphäre Berlins 1936 und lässt dazu wie auf einer Sightseeing-Tour entscheidende Gespräche auf den Zuschauersitzen von Sportstätten stattfinden. Irritierend fand ich, dass die Begriffe Olympiade und Olympische Spiele synonym verwendet werden – darauf haben Raths Figuren im Eifer des Gefechts nicht geachtet. Der allgegenwärtigen Furcht der Beteiligten - mit dem Konzentrationslager vor Augen - von den Nazis bespitzelt zu werden, konnte ich mich selbst aus der Distanz nur schwer entziehen.

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