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Buchdoktor

Posted on 3.2.2021

Linda und Lily sind an ihrer Schule in Loose River/Minnesota die Freaks, über die ihre Mitschüler die Nase rümpfen. Lily hat nie bestritten, dass sie Ojibwe-Vorfahren hat, aber betont, dass die Hütte ihrer Eltern nicht innerhalb des Reservats liegt. Lindas/Madelines Eltern kamen in den 80ern des vorigen Jahrhunderts als Hippies in eine Kommune am See und sind irgendwie hängengeblieben. Von der Icherzählerin Linda liest man, dass die Hütte ihrer Familie 16x20 feet (30m²) groß ist. Wenn es im Winter zu kalt ist, um auf dem Dachboden zu schlafen, zieht Linda mit ihrer Matratze in die Küche. Im Winter ist die Piste zwischen der Hauptstraße und der Hütte natürlich nicht geräumt und Linda muss durch den Schnee zum Schulbus an der Straße stapfen. Wasser wird dann im Topf aus Schnee geschmolzen. Gearbeitet hat Linda seit ihrer Kindheit; hat Holz gehackt, Feuer gemacht, die Schlittenhunde versorgt und Fische ausgenommen. Als Mr Grierson als neuer Geschichtslehrer an Lindas Schule kommt, scheint der sich genau den beiden Außenseiterinnen in einer Weise zu nähern, die einem als Leser die Haare einzeln zu Berge stehen lässt. Obwohl Linda immer einen Beschützerinstinkt gegenüber Lily hatte, schafft sie es nicht, Lily vor Grierson zu warnen. Linda ist inzwischen erwachsen, hat einen Job in der Stadt und berichtet die Ereignisse ihrer Kindheit so wie sie sie damals erlebte, sachlich, ohne sich zu rechtfertigen. Dennoch könnte man ihre Aufzeichnungen als eine Art Verteidigungsschrift ansehen. Kurz nachdem Linda an einem Geschichtswettbewerb teilnahm mit ihrer „Geschichte der Wölfe“, wird auf der anderen Seite des Sees ein Haus mit auffälligen dreieckigen Fenstern gebaut. Die Gardners ziehen dort ein mit dem vierjährigen Paul. Im Winter ist das doch nichts für Städter, denkt Linda spontan. Ihre erste Begegnung mit den Gardners und ihr Babysitter-Job bei Paul bestätigen ihr, dass diese Familie ganz und gar nicht hierher passt. Wer jüngere Geschwister hat oder wessen Eltern etwas weniger exzentrisch sind als Lindas Eltern, würde sofort merken, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt und die noch sehr junge Patra Gardner in einem höchst eigenartigen Hörigkeitsverhältnis zu ihrem Mann steht. Doch Linda ist Einzelkind und hat bisher gelernt, den Mund zu halten und nur ja nicht aufzufallen. Lindas in der Gegenwart verfasste Andeutungen über ihre Zeugenaussage in einem Gerichtsverfahren lassen Schlimmes befürchten. Der Eindruck scheint sich zu bestätigen, dass sich mit dem Erscheinen von Mr Grierson in Loose River Übles zusammenbraute. Linda hat ihr Leben inzwischen wieder im Griff; dass es sich nur um die Fassade eines Lebens handelt, wird bald klar. Ohne zu viel von der Handlung zu verraten; es geht in Fridlunds bemerkenswertem (fiktiven) Erstling um religiösen Extremismus und die Frage, wer die Verantwortung für die Ereignisse bei den Gardners trägt. Hätte Linda etwas bemerken können, die sich angesichts der Gleichgültigkeit ihrer Eltern selbst oft fragte, ob sie evtl. ein Findelkind sein könnte. Verbietet es sich nicht von selbst, dass eine Jugendliche Hilfe sucht, die so lebt wie Linda? Neben Lindas Tonlage, von der der Roman lebt, haben mich besonders die Parallelen in den Ereignissen fasziniert. Das prägende Verhalten von Lindas Mutter, das Sprechen über Dinge, für die einem die Worte fehlen, die Abgrenzung zwischen exzentrischem Verhalten und Straftatbestand oder auch die Übergänge zwischen Denken, Glauben und Handeln. Gerade die im vorliegenden Fall gezeigte Toleranz gegenüber religiösem Extremismus wirft für mich die Frage auf, was wir in Deutschland unter dem Mantel von Toleranz zu dulden bereit sind – und wer für eine deutsche Linda eine Vertrauensperson hätte sein können. Eine sprachlich beeindruckende Coming-of-Age-Geschichte, auf der Short List für den Man Booker Prize.

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