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Buchdoktor

Posted on 1.2.2021

Louise ist zur Beerdigung ihrer Großtante Adrienne in die Normandie gekommen. Als die fremde Frau Louise auf Deutsch anspricht und nach dem milimeterkurzen Haarputz der jüngeren Frau greift, entstand vor meinem inneren Auge das beklemmende Bild französischer Frauen, die von Landsleuten mit geschorenem Kopf als Deutschenliebchen durch die Straßen getrieben wurden. Für Louise sind Erinnerungen an die deutsche Besetzung fünfundvierzig Jahre nach Kriegsende kein Thema mehr. Ida verblüfft ihre entfernte Cousine damit, dass sie Deutsch spricht. Niemand hatte Louise erzählt, dass ihre Mutter Paulette und Ida Cousinen sind. Die junge Französin ging vor Jahren nach Deutschland und wird demnächst als Wissenschaftlerin auf der Halbinsel Cotentin über die deutsche Besetzung während des Zweiten Weltkriegs forschen. Der alte Pappkoffer mit Schnappverschluss, den Louise damals packte, stellt die Verbindung zu einer Familiengeschichte voller Geheimnisse und nie ausgesprochener Enttäuschungen dar. Louise hatte nie verstanden, warum ihre Mutter so entsetzt reagierte, als sie in der Schule Deutsch lernen wollte, schließlich würde sie damit ihre Berufschancen verbessern. Als Louise nach Deutschland ging, muss das für Adrienne ein kräftiger Affront gewesen sein. Louise ging nicht nur zum Studium, sie verlässt ihre Heimat ganz. Louise entdeckt, dass ihr privates Ich sehr viel tiefer in die Familiengeschichte eintauchen muss, als das ihrem beruflichen Ich möglich sein würde. Angelpunkte für Louises Spurensuche sind das Familienchalet, das Ferienhaus am Meer, in dem sich die ganze Familie Sommer für Sommer in den Ferien traf und Idas Aufzeichnungen, die bis 1927 zurückreichen. Idas Mutter erfand über den nicht vorhandenen Vater ihrer Tochter das Märchen vom ertrunkenen Fischer und konnte Ida als Kind dennoch niemals das Gefühl vermitteln, geliebt zu sein. Ida wurde in der Familie hin und her geschoben, bis nach Jahren in den Wirren des Krieges niemand mehr nach ihrer Herkunft fragte. Idas Erzählungen und ihre Aufzeichnungen, die sie Louise zum Lesen überlässt, fügen sich schließlich wie ein Puzzle zu dem sorgsam gehüteten Familiengeheimnis, das nicht allein mit den Geschehnissen während der deutschen Besetzung zu erklären ist. Auf den ersten Seiten des Romans fragte ich mich, wer Übersetzer/in des Textes ist, bis mir klar wurde, dass Odile Kennel ja das deutsche Original verfasst hat. Idas Erinnerungen bilden eine Schnittstelle zwischen deutscher und französischer Kultur. Die Autorin ist zweisprachig aufgewachsen und hat mir Louises Leben zwischen den beiden Sprachen durch Louises Annährung an Idas Leben nahegebracht. Die komplizierte Familiengeschichte von Paulette und Ida ähnelt streckenweise einem Krimi und fesselt mit ihrer sensiblen Sprache. ----- Zitat "Die Sonne erhitzte ihre Haut, wie sie es nur am Meer vermag, wo die Salzkristalle in der Luft wie winzige Brenngläser wirken. Das Salz ist es, das die Luft am Meer kantiger, das Licht klarer, die Körper unmittelbarer erscheinen lässt, erbarmungslos den Blicken ausgesetzt, und erst gegen Abend werden Licht und Körper weich, wunschlos, wie sie es fern vom Meer nie sind, das Salz in der Luft schärft oder verwischt die Konturen, lässt keine Abstufung zu." (S. 19)

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