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Buchdoktor

Posted on 30.1.2021

Als Hannas betagte Großmutter tot im Garten gefunden wird, ist die Literaturwissenschaftlerin gerade auf dem Sprung nach Harvard. Doch zuvor will sie schnell noch ihre Habilitationsschrift fertigstellen, die Voraussetzung für ihr Stipendium in den USA. Emma von Glockstein hatte mit über 90 Jahren zuletzt allein im ehemaligen Schulhaus in einem Dorf bei Freiburg gelebt. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ihr Mann in dem Gebäude noch als Lehrer unterrichtet. Als die Schule wegreformiert wurde, kaufte der Großvater das Haus, um mit seiner Familie darin zu wohnen, während er längst auswärts arbeitete. Emmas und Erichs einzige Tochter Marie ist Hannas Mutter. Weil das Kind schlecht in die Karrierepläne ihrer Mutter passte, wurde Hanna von den Großeltern erzogen. Ein Jahr nach Emmas Tod kehrt Hanna nun nach Kirchberg zurück, um mit sich selbst ins Reine zu kommen und um vor ihrem Terminkalender als Versehrte zu fliehen. Bei der Operation ihres Hirntumors hat Hanna einen Schlaganfall erlitten und kann seitdem nur noch wenige Worte sprechen. Die Wörter sind noch da, aber die Logistik des Zugriffs funktioniert nicht mehr. Für eine allein lebende Patientin nach einem Schlaganfall bietet das Haus in einem winzigen Dorf nicht gerade die ideale Unterkunft. Doch Hanna redet sich selbst gut zu, dass sie in Berlin schließlich bis in den 4. Stock mehr Treppen zu steigen hätte als hier. Hilfe anzunehmen und sich mit ihrem körperlichen Verfall auseinanderzusetzen, wird noch ein harter Weg für Hanna sein. In der Begegnung mit den Nachbarn, die Hanna seit ihrer Kindheit kennt, entfaltet sich am Beispiel von drei Familien die deutsche Nachkriegsgeschichte. Hannas Großvater Erich war 1945 frisch aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen im Dorf der reingeschmeckte Außenseiter und zu allem Überfluss noch Protestant. In der Bauernfamilie Huber finden die klassischen Nachkriegsdramen statt, zwischen einem starrsinnigen Vater, seinen Söhnen, die den Hof nicht übernehmen werden, und seiner Tochter, die den Hof nur zu gern weiterführen würde, wenn der alte Ludwig sie nur ließe. Die Bracaglias betreiben im Dorf eine Pizzeria. Hanna hat ihren Jugendfreund Patrizio schon immer glühend um die Freiheit beneidet, die er sich im Familienbetrieb nehmen konnte, weil beide Eltern arbeiteten. In Schritten von jeweils einer Dekade erzählt Verena Boos von diesen drei Familien und ihren Kindern, die auf unterschiedliche Art aus dem Dorf in die Welt streben, um eigene Vorstellungen vom Glück zu verwirklichen. In die Familiengeschichten verwoben finden sich aus unterschiedlichsten Perspektiven die Themen Heimat und Flucht. Auch die Kinder der Bracaglias zieht es raus aus dem Dorf, während im Dorf Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg ankommen. Der Bogen der deutschen Nachkriegsgeschichte schließt sich in der Gegenwart, als Patrizio die gemeinsame Geschichte der Deutschen und der italienischen Migranten in Form einer Graphic Novel zu Papier bringt. Hannas Sprachstörung habe ich nicht als zentrales Thema des Romans empfunden, sondern als Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft. Hinter einem Buchcover, dass passend zu Hannas eingeschränkter Sicht farblich und perspektivisch „falsch“ wirkt, bietet „Kirchberg“ sehr viel mehr als die Begegnung mit einer schweren Erkrankung. Durch den stilistisch düster wirkenden Einstieg oder durch Hannas Versehrtheit sollte sich niemand von der Lektüre abhalten lassen. Verena Boos' Familienroman bietet einen originellen Zeitverlauf und Figuren, die in aller Unangepasstheit anrühren können.

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