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Buchdoktor

Posted on 26.1.2021

Perdita erzählt die verstörende Geschichte eines Mädchens, das nach Jahren der Vernachlässigung eher zufällig zu einfühlsamen Pflegeeltern kommt. Flora und Ted geben Perdita instinktiv die Liebe und Aufmerksamkeit, die jedes Kind zum Heranwachsen braucht - und sie suchen therapeutische Hilfe für ein Trauma, das sich durch Liebe allein nicht heilen lässt. Der englische Originaltitel "Sorry" vermag die Tiefe der Handlung sehr viel besser zu vermitteln, denn dieser Begriff umfasst laut Nachwort der Autorin in der australischen Kultur als Entschuldigung für erlittenes Unrecht gegenüber den Aborigines auch Reue und Schuld (s. a. Sorry Day). Stella und Nicholas waren späte Eltern, als 1930 ihre einzige Tochter Perdita geboren wird. Nicholas begann, körperlich und seelisch versehrt, nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg ein Studium der Anthropologie. Den Makel, in England nicht mehr gebraucht zu werden, will er als wichtiger Wissenschaftler in Australien aus der Welt schaffen. Er liefert mit seiner Forschung britischen Behörden das Wissen, mit dem sie die eingeborenen Aborigines unterdrücken werden. Lenkung und Kontrolle wird das Verfahren genannt, mit dem alte Strukturen zerstört und eine moderne Welt geschaffen werden soll. Stella spürt von Anfang ihrer unglücklichen Ehe an, dass Nicholas seelische Wunden nicht verheilen können und er sie nicht aus Liebe geheiratet hat. Von der gemeinsamen Ankunft in Australien an schlägt Nicholas seine Frau, die sich durch das Rezitieren von Shakespeare aus der Realität träumt. Für das Baby Perdita empfindet Stella nichts. Heute wissen wir, dass Stella an Depressionen erkrankt ist. Beide Eltern wirken lebensuntüchtig, in ihre eigene Welt versponnen und deutlich gestört. Das kleine Mädchen überlebt nur durch die Fürsorge der weißen Nachbarin und einer schwarze Amme. Nicholas zeigt sich als grausamer Vergewaltiger, der sich zudem Gewaltphantasien gegenüber Billy, dem taubstummmen Sohn der Nachbarn, hingibt. Seine Gewalttätigkeit wird nicht in Worte gefasst, sie entsteht aus den Bildern, die Perdita und ein neutraler Erzähler für den Leser schaffen. Eines dieser verstörenden Bilder ist die Anfangsszene des Buches, in der Nicholas erstochen in einer Blutlache liegt, die Hose noch heruntergelassen. Erst viel später habe ich dieses Bild und seine Konsequenzen begriffen. Perdita, die nur zum taubstummen Billy eine enge Freundschaft pflegt, wird von ihrer Mutter selbst unterrichtet und ist von der aufgezwungenen Nähe deutlich überfordert. Mit dem Tod des Vaters hört Perdita auf zu sprechen und flüchtet sich in die Welt der Bücher. Als Perdita 10 Jahre alt ist, wird ihre erneut psychisch erkrankte Mutter in eine Klinik eingewiesen. Mary, eine junge Klosterschülerin, die als Mischlingskind ihren Eltern vom Staat fortgenommen wurde, soll sich um den Haushalt kümmern und Perdita unterrichten. Endlose Tage versinken die Mädchen in Nicholas Büchern. Mary ist überzeugt, dass Menschen miteinander verbunden werden, indem sie die gleichen Worte lesen. Beide lieben sich wie Schwestern, bilden mit Billy eine Art Ersatzfamilie. Mary lehrt Perdita und Billy die Sprache der Tierspuren, eröffnet ihnen ein Universum des Verborgenen. Perdita wird sogar als Marys Schwester in eine "skin group" von Marys Aborigine-Zweig aufgenommen. Die kurze Idylle endet in der Szene, die den Vater tot, halbnackt und blutüberströmt zeigt. Mutter und Tochter werden im Zuge des Kriegsgeschehens nach Perth evakuiert. Perdita geht, nun getrennt von Billy und Mary, in der fremden Stadt zum ersten Mal zur Schule. Das Mädchen spricht kaum, stottert, wird von Mitschülern gehänselt, selbst ihre Lehrer brechen aus Unsicherheit die Kommunikation ab. Dass Stella wieder in eine Klinik eingewiesen wird, erweist sich als entscheidende Wende für Perdita. Einfühlsame, besonnene Pflegeeltern suchen Hilfe bei Dr. Oblov, der selbst einmal ein gehänseltes Kind war. Mit überwältigender Güte bietet der Therapeut der verstörten Perdita Ankerplätze, an denen sie festmachen kann. Sie gewinnt Zugang zu ihren Erinnerungen und erkennt, dass sie Mary finden muss, um wieder ganz gesund zu werden. In diesem wortgewaltigen Roman einer traumatischen Kindheit geht es um Sprache, Sprachlosigkeit, Verdrängung, um Trauer und Schuld, aber auch um Heilung und Versöhnung. Zwei gegensätzliche Erzählerstimmen (die Ich-Erzählerin und eine neutrale Stimme) verleihen der Handlung zusätzliche Dramatik; die sehr analytische neutrale Stimme lässt streckenweise zu wenig Raum für eigene Gedanken. Die unerschütterliche Zuversicht, mit der Perditas Pflegemutter es mit einem unlösbar scheinenden Problem aufnimmt, fand ich neben vielen anderen emotionalen Szenen sehr wohltuend - und wünsche dieses Erlebnis möglichst vielen Lesern des Romans.

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