Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 2.1.2021

Es ist sicher kein Zufall, dass Sören Kittel sich zu Korea hingezogen fühlt; denn den zugänglichen südlichen Landesteil und Deutschland verbindet die sehr spezielle Situation in einem früher oder noch immer getrennten Land. Kittel sah die Welt jenseits der deutschen Mauer zum ersten Mal mit 10 Jahren. In Deutschland wurde er u. a. bekannt mit einer Foto-Reportage über Kneipen in Süd-Korea mit ungewöhnlich „deutschen“ Namen. Kittels Kapitel über die Hauptstadt Seoul liest sich wie die Beziehung zu einer kapriziösen Geliebten. Ein Fluss und ein Hügel sind unbedingt nötig für eine Stadt, trägt ihm Herr Yang aus der Sicht des Geomanten vor. Kittels erste Begegnungen mit in Süd-Korea lebenden Ausländern bestätigen das eigenwillige Verhältnis zwischen dem Gastland und Einwanderern, die zwischen sich und ihre Heimatländer offensichtlich eine möglichst große Distanz legen wollten. Süd-Korea hat derzeit ein sehr cooles Image bei jungen Ausländern. „Es gibt viel Arbeit, freundliche Menschen, sehr gutes Essen und wohl eins der besten Transport-Systeme weltweit. Hier gilt das umgedrehte New-York-Prinzip: 'If you can’t make it anywhere – you can make it in Seoul.' " (Seite 19) Kittels Reisereportagen entstanden auf Busreisen zu Orten, die ganz im Zeichen des „Han“ stehen, einer so nur in Süd-Korea möglichen Traurigkeit. Eine charakteristische Verbindung aus Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem und der lebenslangen Unfähigkeit, loslassen und vergessen zu können, nimmt er bei seinen Gesprächspartnern wahr. Konfuzianisch geprägte Länder wie China zeichnen sich durch ihr hohes Harmoniebedürfnis aus, durch den gesellschaftlichen Zwang das Gesicht des Anderen zu wahren und nur nicht aus der Reihe zu tanzen. Aus dem Schweigen hat sich in Süd-Korea das Vertuschen von Katastrophen und Skandalen entwickelt, das für Betroffene leidvolle Folgen hat. Beispiele sind der Untergang der Sewol mit hunderten von Todesopfern 1980 und der Amoklauf eines Polizisten 1982 mit über 50 Opfern. Beide Katastrophen wurden aufgrund von Denkverboten aus der Zeit der Militärdiktatur nicht aufgearbeitet. Der Autor bereist ein Land, das ehemals japanisches Protektorat und lange von fremden Großmächten abhängig war. Der Korea-Krieg (1950 bis 1953) ließ das Land geteilt und auf dem Stand eines Entwicklungslandes zurück. Mit der langen Fremdbestimmung erklärt der Autor das Bedürfnis der Südkoreaner unter sich zu sein, einmal nicht mit Fremden Englisch sprechen zu müssen, nicht mehr vom Ausland abhängig zu sein. So verständlich diese Einstellung im Privaten sein mag, steht sie doch den Anforderungen des Arbeitsmarktes entgegen. „Der Frosch muss aus dem Brunnen, weil das, was er darin sieht, für ihn die Welt ist“, bringt ein Gesprächspartner das Problem des südkoreanischen Bildungssystems auf den Punkt. Ein bunter Strauß an Themen umfasst die Situation von jungen Leuten auf Partnersuche, die alter Menschen in einer überalterten Gesellschaft, deutsch-koreanische Ehen, aus Südkorea adoptierte Kinder, sowie koreanische Bergarbeiter und Krankenschwestern als Arbeitsemigranten, die aus der Erinnerung in Deutschland fast wieder verschwunden waren. Kittels Reportagen sind erstaunlich emotional und zeugen von tiefem Verständnis für sein Gastland. Die Trauer um den Riss, der durch das Land und durch betroffene Familien geht, kann wohl nur jemand nachvollziehen, der das in ähnlicher Form erlebt hat. Eine klug zusammengestellte Reise aus dem Jahr 2013, die den Lesern Türen öffnet und mit Sicherheit dem Nutzen bringt, der in einem internationalen Team eng mit Süd-Koreanern zusammenarbeitet.

zurück nach oben