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awogfli

Posted on 31.12.2020

Ausnahmsweise werde ich, bevor ich diesen dystopischen Roman von Karen Duve aus meiner eigenen Sicht beurteile, eine Analyse der sehr polarisierenden Meinungen zu Macht vornehmen. Normalerweise kenne ich schon den Geschmack meiner besser bekannten Buchfreund*innen, der nicht immer, eher sogar selten, mein eigener ist, weil ich mich sehr gerne mit klugen Leuten umgebe, die einen völlig andere Meinung zu vielen Büchern als ich haben, die ich aber sehr oft vorhersehen und fast immer nachvollziehen kann. Dieses Mal gab es aber einige wirkliche Überraschungen, die mich eben auch über die Beurteilung des Buches und die Gründe dazu nachdenklich werden ließen. Zumal ja Duves Werk auch vom Feuilleton, ganz arg zerzaust wurde. Die diametral entgegengesetzte Kritik – es ist fast wie bei Koriander entweder man mag ihn, oder man kann ihn gar nicht leiden – ist auf mehreren Ebenen zu finden. Manche fanden den die Handlung zu heftig, was ich durchaus verstehen kann und manche fanden die dystopische Gesellschaftskritik zu schablonenartig, sensationsheischend und überzeichnet. Habe da mal zwei Originalkommentare sowohl aus dem Feuilleton als auch aus Buchnetzwerken gebracht, die ich durchaus nachvollziehen kann, aber die ich nicht ganz teile. „Natascha Kampusch mit ein bisschen „Fifty Shades of Grey“ – und zwar aus Psychopathen- und Männersicht.“ oder auch „Wahnsinnig krude, flach und - Satire hin oder her - in seiner Holzhammermäßigkeit schon fast lächerlich. Es ist das Gone Girl-Problem: Unterkomplexe Allerwelts-Thesen verkauft als mega-pfiffige Gesellschaftskritik.“ Erstaunlich ist auch, dass es ausgerechnet einige Frauen gab, die mit dem Roman Probleme hatten und natürlich alte weiße Männer, fühlten sich von der Geschichte angepisst, was ja durchaus beabsichtigt war. Erstaunlich war aber unter meinen Buchfreunden, dass vor allem die sensibleren Männer, die für Frauenanliegen sehr aufgeschlossen sind und die wirklich völlig außer Streit stehen, dass sie sich an der Gewalttätigkeit des Buches aufgeilen, sehr nachdenklich wurden bis total begeistert von dem Roman waren. Und das hat mich eigentlich dazu veranlasst, diesmal ausnahmsweise zusätzlich zu meiner Meinung auch noch über die Standpunkte von anderen zu spekulieren. Man möge mir verzeihen, wenn ich total falsch liege, dann gilt natürlich nur meine Meinung und nicht meine Mutmaßungen. Der letzte Anlass war eine durchaus berechtigte Frage von zwei Goodreads Freundinnen, ob sie sich das Buch wirklich antun sollen, und das ist nicht einfach zu beantworten. Zuerst es ist eine richtig heftige Geschichte, voll von Gewalt, sowohl körperlich als auch psychisch, und sie ist sehr realistisch geschildert. Wer mit so etwas nicht zurechtkommt, sollte die Finger davon lassen. Ich bin in dieser Thematik ja recht versiert, habe von Emma Donnoghue Raum und Claustria von Regis Chauffret gelesen, auch aus persönlichem Interesse, denn Herr Fritzl (heute Meyrhoff) lebt ja in meiner Stadt in der Justizanstalt und auch Jack Unterweger saß hier ein. Ich habe auch 2019 einmal Natascha Kampusch auf der BuchWien getroffen, ihre Biografie gelesen und war von der Stärke dieser Frau begeistert. Ich bin ja der Typ, der, wenn er mit so einem Grauen konfrontiert wird, was ich durch die Justizanstalt und meinem Arbeitsplatz auf der Donau- Universität mit direktem Blick in den Gefängnishof jahrelang erlebte, nicht den Kopf in den Sand steckt, sondern noch mehr darüber wissen muss. Wissen, Analysen und Daten schaffen bei mir Vertrauen, die Situation besser im Griff zu haben, als sie zu verdrängen, egal wie grausam die Geschichte ist. Nun zur dystopischen Zukunft im Jahr 2031. Die Frauen sind übrigens in der Geschichte in Deutschland nur deshalb an der Regierung, weil die Männer den Planeten Erde definitiv an die Wand gefahren haben und er verloren ist. Wirbelstürme mitten in Stadtzentren, komplett zerstörte deutsche Großstädte, Algenteppiche, die jedes Leben im Meer töten, KillerRaps, der jede andere Pflanze vernichtet, Klimaflüchtlinge en Masse, Islamisches Kalifat in Asien… dies ist nur eine reale und sehr kurzfristige Fortschreibung unserer Probleme in der Gegenwart. Die Frauen in der Regierung versuchen, zusammen mit den Wissenschaftlern, in den verbleibenden fünf Jahren noch ein Wunder herbeizuführen. Eigentlich ist diese Macht und die eingeführten gesellschaftlichen Konventionen und Beschränkungen eine sinnvolle, mit Verzicht auf Fleisch und Verbrennungsmotoren und anderen klimafreundlichen Geboten mit vielen Freiheiten für die Männer, die durchaus auch mittlere Managementpositionen ausfüllen können, aber eben nicht mehr das Sagen haben. Schon so ein bisschen Beschränkung von asozialem Verhalten zu Gunsten der Gesellschaft und der Natur, um vielleicht doch noch die verbleibende Zeit der Menschheit hinauszuschieben und durch Wissenschaft eine Lösung für die Probleme zu finden. Diese kleine Kalamität verursacht haufenweise narzisstisch gekränkte Männerseelen, die lautstark fordern und dafür demonstrieren, Tiere zu schlachten, Autos zu fahren, den Kindern keine Helme mehr aufzusetzen und alte patriarchalische Muster aus dem 1950er Jahren wieder auszupacken. Die grassierende Männerstörung befällt auch (Sebastian den Namen hasst er) Bassi, der ursprünglich Umweltschützer, Vegetarier, Feminist und Demokrat war, aber als der Planet nicht mehr zu retten war, schlägt er sich auf die Seite der Geschlechtsgenossen, will auch Fleisch fressen, die Umwelt zerstören und Frauen dominieren. Der absolute Wahnsinn ist auch, dass er sich mit den Männern solidarisiert, den Frauen und nicht den alten weißen Männern die Schuld am Weltuntergang gibt, vom Intellekt her aber wohlwissend, dass die Situation umgekehrt ist und obwohl er die Belege für die eigentlichen Schuldigen auch immer aufzählt. „Als Aktivist musst du Optimist sein“, sage ich, „professioneller Optimist. Auch wenn nicht mehr zu übersehen ist, dass die Zustände immer schlimmer und schlimmer werden, muss man daran glauben, dass man die Sache doch noch zum Guten wenden kann. Ich konnte das irgendwann einfach nicht mehr. Eine Zeit lang habe ich noch so getan, als würde ich daran glauben. Aber das hat mich auf die Dauer kaputtgemacht. Und dann bin ich irgendwann ganz ausgestiegen." Der total desillusionierte und frustrierte Bassi hat zudem ein böses, abartiges Geheimnis. Seine angeblich entführte Frau wird wie bei Fritzl in seinem Prepper-Raum im Keller gefangen gehalten, systematisch von ihm psychisch gebrochen und permanent vergewaltigt. Das ist sehr heavy, denn Bassi hat sich von einem gewöhnlichen Mann, der mit einer Trennung schwer zu Recht kam, durch die absolute Macht über seine Frau im Verließ zu einem veritablen Psychopathen entwickelt. Er rechtfertigt auch noch alle seine Aktionen und Duve bleibt in der ganzen Geschichte konsistent bei Bassis Täter-und Männersicht. Eigentlich verschiebt Duve nur um eine kleine Nuance die Regler des männlichen Macht- und Gewaltanspruches und der Rechtfertigungsgründe bis zu dem Punkt, an dem dann auch der Mann sagt, OK das ist jetzt nicht mehr normal, da muss ich ein bisschen auch reflektieren, was so in der Welt passiert und was eigentlich viele meiner Geschlechtsgenossen so anstellen – davor kann ich die Augen nicht verschließen. Viele Frauen aber, die in einigermaßen normalen Beziehungen leben, wollen nicht wahrhaben, dass ein Großteil ihrer Geschlechtsgenossinnen genau diese Realität von Gewalt, Machtmissbrauch und Rechtfertigungen tagtäglich erlebt und dass die Anzahl dieser sehr hoch ist, wie viele Gewaltstatistiken zeigen (hab grad wieder aktuelle für Deutschland von Alice Schwarzer gesehen) und will die Augen davor verschließen. Da braucht man nicht nach Saudi-Arabien zu schauen, sondern muss sich nur die Femizide an deutschen Frauen deutschstämmiger Herkunft anschauen, die immer so nonchalant als Beziehungsdrama bagatellisiert werden. Weniger als jeden zweiten Tag gelingt es in jedem Jahr einem Mann in Deutschland, seine Frau umzubringen. Die Versuche und die jahrelangen Gewaltorgien, die solchen Taten vorausgehen, sind dabei gar nicht mitgezählt. Viele Frauen wollen kein Opfer sein und auch nicht auf das Opfer sein hinsehen, weil es ihnen entweder zu weh tut, oder weil sie wirklich viel Glück hatten und diese Realität nicht kennen. Dieser Roman von Karen Duve tut weh, vor allem den Opfern. Aber der Roman behandelt weitaus mehr als nur das Thema Gewalt an Frauen. Beim Umwelt- und Klimaschutz in der Geschichte wendet Duve wieder dasselbe Muster an. Obwohl der Planet schon total an die Wand gefahren ist und CO2-Verbrauch nur in homöopathischen Dosen erlaubt ist, gerieren sich die Männer bei Bassis Klassentreffen und haben eine ganze Sau organisiert. Die einen leugnen die Klimakatastrophe, die ihnen wahrscheinlich nur noch fünf Jahre auf dem Planeten beschert und die anderen, die vorher vegetarisch gelebt haben, um den Planeten zu retten, wollen jetzt auch noch genießen. Egoismus und asoziales Verhalten feiern fröhliche Urstände, aber schon so abgeschmackt, dass es peinlich ist. Genau dasselbe Muster ist nur einen Wimpernschlag von dem entfernt, was wir derzeit bei Corona und mit den Corona Leugnern erleben und gerade so viel mehr überzeichnet als in der Realität, dass sich auch der vernünftigste Mensch nicht mehr von der Verantwortung und von der Reflexion des eigenen Verhaltens verabschieden kann. Bei den heutigen Klimaleugnern ist die Situation ja noch um eine Nuance eine andere, denn wir haben ja noch ca. 50 Jahre oder auch nur noch 11 Jahre wie in diesem Buch, bevor wir mit Vollgas in den Abgrund rasen und das werden manche von unseren Leugnern möglicherweise nicht mehr erleben. Also ich persönlich finde diese Überzeichnung mit Paukenschlag für mich und für die Gesellschaft genau in der richtigen Dosis, dass man sich ob des Verhaltens an den Kopf greifen mag und gar nicht schablonenhaft. Sensationslüstern ist die Dystopie, und es wird endlich Zeit, dass Menschen wie Greta Thunberg mit Pauken und Trompeten auf sich aufmerksam machen, denn das Thema wird von den Wissenschaftlern seit den 80er Jahren immer sachlich aufs Tapet gebracht und immer wieder unter den Teppich gekehrt, weil alle so sachlich, so lieb und so leise waren. Selbst Al Gores Film hat 2001 nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten. Ein Umstand wird auch noch so sensationell von der Autorin überspitzt, dass es eine Freude ist. Die vom Mindset her alten weißen Männer die diese Geschichte bestimmen, sind jetzt uralte weiße Männer (mehr als 70 Jahre), die durch eine Verjüngungspille namens Ephebo wieder jung knackig und dynamisch aussehen. Nicht nur dass sie den eigentlichen jungen Leuten die Jobs wegnehmen, sie rauben ihnen auch noch egoistisch die Zukunft. Bassi nimmt an seinem Klassentreffen teil und verliebt sich dort erneut in seinen Jugendschwarm Elli, die natürlich auch durch Ephebo zu einer fünfundzwanzigjährigen mutiert ist. Er beginnt mit ihr eine ernsthafte Beziehung und nun ist die total gebrochene, im Keller hausende, devote, sexuell ständig verfügbare Ehefrau ein Problem in Bassis Leben. Jetzt komme ich auch noch zur herausragendsten Eigenschaft dieses Romans. Die Handlung ist so sensationell rasant und atemberaubend, dass man das Buch fast nicht mehr weglegen kann. Bei dreiviertel der Geschichte hat sich Duve einen grandiosen Plot Twist im kleinen Kerker ausgedacht, der Bassi plötzlich vor neue Herausforderungen stellt und eine dramatische Erschütterung in seinem bisherigen Machtgefüge darstellt. Das ist aber noch nicht das Sahnehäubchen in der Handlung. Das Finale ist so gut geplant, wundervoll und abgedreht, denn das angeblich größte Arschloch der Figuren bricht eine Lanze für die Frauen. Fazit: ich fand den Roman grandios, furchtbar grandios, bitterböse und so beißend, dass er einem ins Gesicht beißt. Viele aktuelle Probleme werden großartig in einer rasanten Geschichte verpackt, die mich sehr nachdenklich macht, noch lange nachwirkt und Diskussionen aufwirft, wenn man die Dystopie durchstehen kann. Alles, was ein guter Roman eigentlich machen soll. Den Holzhammer, der in der Kritik vorkommt, kann ich vollständig unterschreiben, bin aber der Meinung dass Themen wie Gewalt gegen Frauen oder Klimaschutz, die wir schon seit dem letzten Jahrhundert immer wieder ernsthaft angehen, durchaus einmal den Holzhammer brauchen, damit sie nicht wieder unter den Teppich gekehrt werden.

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