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Buchdoktor

Posted on 30.12.2020

George interessiert sich für Mode und träumt sich als Melissa in ihr wahres weibliches Ich. Alex Gino als Erzähler der Geschichte nennt George konsequent „sie“, während alle anderen Personen von „ihm“ sprechen. Die Situation eines Kindes mit falscher Geschlechtsidentität wird damit so beklemmend deutlich wie die Endgültigkeit von Georges gefühltem Geschlecht. George wächst ohne Vater auf; die Eltern leben getrennt. Auseinandersetzungen mit dem Männerbild des Vaters geht Gino durch diese gewählte Familienform geschickt aus dem Weg. Allerdings demonstriert der ältere Bruder Scott dem Jüngeren in pubertärer Taktlosigkeit, was er für männlich hält. Melissa darf sich für Mode interessieren und Mädchen-Zeitschriften lesen. Schon als kleines Kind hat George die Mutter damit schockiert, dass sie Mädchenkleidung tragen wollte. Bis in die vierte Klasse konnte George die gefühlte Identität verbergen. Nun wird die Klasse das Schultheater-Stück "Wilbur und Charlotte" aufführen. Für die sehr emotionale Rolle der Spinne Charlotte wird George bei der Lehrerin vorsprechen. In der Rolle der Charlotte wird sie ihrer Mutter ihre wahre Identität zeigen, die die Mutter bisher nicht „sieht“. Doch die Lehrerin betrachtet Charlotte als Mädchenrolle und will sie nicht an einen Jungen vergeben, weil so viele Mädchen nach dieser Rolle streben. - Selbst wenn dieser Junge die ideale Besetzung für Charlotte wäre. Die Entscheidung ist willkürlich, ungerecht und schreibt Mädchen und Jungen vorgefasste Rollenbilder zu. Doch Miss Udell hat nicht mit Kellys bedingungsloser Freundschaft zu George gerechnet. Kelly, die bisher mit George durch dick und dünn gegangen ist, will die Entscheidung nicht hinnehmen. Das kann ja heiter werden! Kelly wollte früher Feuerwehrmann werden, sie kann sich über Ungerechtigkeiten aufregen und ergreift schon immer gern Partei für die unterlegene Seite. Beide Kinder sind über transgender Persönlichkeiten informiert; George weiß auch, dass sie erst als Volljährige über Behandlung und Operation entscheiden darf. Bei Kelly zuhause ist es unordentlicher als in anderen Familien; denn ihr Vater hat als Komponist andere Interessen als Staubwischen. Kellys Vater predigt, dass ein Künstler Kontakt zu seiner weiblichen Seite pflegen muss. Er meint allerdings, dass die weibliche Seite der Entwicklung zum männlichen Künstler dient – und ist George mit dem Statement keine große Hilfe. Alex Gino hat mit der zehnjährigen George eine hinreißende, überzeugende transgender Kinderbuchfigur geschaffen, die ich in der Geschichte konstant als weiblich empfunden habe. Ginos Buch ist nicht in allen Details perfekt. Weil der Autor eine für die Zielgruppe passende Sprache trifft, finde ich das Buch bereits für interessierte Leser ab 9 Jahren geeignet. Die Mutter und ihre Einstellung zu George fand ich wenig überzeugend. Als Gegenpol zu fördernden Lehrern, einer in Genderfragen engagierten Direktorin und der tatkräftigen Kelly war offenbar noch eine kritische Stimme nötig. Als Seele von einer Freundin tritt die unkonventionelle Kelly auf. „George“ wurde sicher nicht nur für die Melissas dieser Welt geschrieben, sondern auch für die ermutigenden Kellys.

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