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Buchdoktor

Posted on 22.12.2020

Laura und ihre Familie reisen 1924 im Orientexpress Konstantinopel-Paris. Obwohl der Schaffner ihr das Sitzen in der offenen Zugtür verboten hat, zieht es das Mädchen immer wieder an den Platz zurück, an dem ihr der Fahrtwind ins Gesicht bläst. Das gemächliche Tempo des Zuges und die Unbeschwertheit, die ich mir für Lauras weiteres Leben wünschte, hat mich von der ersten Seite an in das Buch hineingezogen. Lauras Mutter tingelte als Bar-Sängerin bis in die Luxus-Hotels von Kairo und Bagdad. Die fünf Kinder sind immer dabei; sie wachsen wie moderne Nomaden in Hotels auf und können sich in zahlreichen Sprachen verständigen. Die Luxusherbergen des vorderen Orients repräsentieren inzwischen eine untergehende Welt; für Lauras Mutter ist nach zwanzig Jahren Herumzigeunern die Zeit für einen neuen Lebensabschnitt gekommen. 1924 ist Laura dreizehn Jahre alt und weiß genau, dass sie ihr Geld, anders als ihre Mutter, nicht verdienen will, indem sie zahlenden Gästen einen Blick auf ihr Strumpfband gewährt. Auch Felix, der am Bahnhof den Zügen nachträumt, entscheidet sich gegen den sicheren, überschaubaren Lebensweg. Felix schätzt zwar die Berechenbarkeit der Naturwissenschaften, aber er will sein Leben mit einer zweckfreien Tätigkeit verbringen, obwohl er dafür kein Vorbild hat. Die dritte Figur, die Lauras und Felix' Weg hätte kreuzen können, lebt nicht mehr. Emile Guilliérons Sohn durchquert mit der Bahn die Schweizer Puppenstubenwelt, um bei Zürich die Asche seines Vaters im See zu bestatten. Vater Guilliéron, ein begabter wie fauler Künstler, hatte eine Generation zuvor seine geordnete Heimat zu verlassen, um ein anderes als das für ihn vorgezeichnete Leben zu leben. Emile machte als wissenschaftlicher Zeichner Schliemanns eine für beide Seiten lukrative Karriere. Während der phantasievolle Zeichner Emile als Zeugnis seiner Tätigkeit unzählige Nachbildungen antiker Fundstücke hinterlassen hat und es zu Felix Bloch zahlreiche Quellen gibt, ist über Laura d'Oriano nur wenig zu erfahren. Die Figuren sind authentisch, ihr Lebensweg und der historische Hintergrund wurden von Alex Capus sorgfältig recherchiert. Quellenangaben finden sich auf der Webseite zum Buch. Der Autor weist wiederholt darauf hin, dass seine Ideen seiner Phantasie entsprangen und möglich gewesen w ä r e n. Der durch das Alamo-Projekt der USA bekanntere Felix Bloch und die weniger bekannten Laura und Emile sind für mich durch ihren Mut zu unkonventionellen Entscheidungen und zum Aufbruch ins Unbekannte miteinander verbunden. Mit wachsender Spannung fragte ich mich, ob sie später im Leben diesen Mut noch einmal zeigen oder sich mit den Verhältnissen arrangieren würden. Nachdem ich längst die letzte Seite beendet hatte, beschäftigten mich Alex Capus miteinander verflochtene Romanbiografien der drei gegensätzlichen Personen noch weiter. Durch den entschlussfreudigen Charakter seiner Figuren und durch die beim Erzählen stets ironisch erhobene Augenbraue hat Capus mich für Belletristik über die Epoche des Nationalsozialismus zurückgewonnen. Seine Verbindung aus Fakten und Fiktion hat meinen Geschmack getroffen. ----- Zitat "Die zwei jüngsten Geschwister [Lauras] Marina und Maria Teresa wiederum wuchsen unter der Obhut eines Kindermädchens auf, das ein einfältiges Ding war, und viel Zeit darauf verwandte, die Mädchen im Umgang mit Mascara und Nagellack zu unterweisen. Abends vor dem Einschlafen erläuterte sie ihnen die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den europäischen Königshäusern und berichtete von Traumhochzeiten und tragischen Todesfällen. Die Mädchen lauschten, ließen alles in ihre weichen Kinderschädel einsinken und waren schon bald überzeugt, dass es der vornehmste Lebenszweck jedes Mädchens sei, sich von einem russischen Prinzen heiraten zu lassen; so tief sank diese Vorstellung in sie ein, dass die Idee sich später, als ihre Schädel härter geworden waren, nicht mehr verflüchtigen konnte." (S. 48)

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