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Buchdoktor

Posted on 11.12.2020

Anja Hradetzky wird ihr Heimatdorf im Erzgebirge verlassen, um Ökologische Landwirtschaft zu studieren und später möglichst mit Pferden zu arbeiten. Sie will anders leben als ihre Eltern und sich vor allem ökologisch verantwortungsvoller ernähren. Das Beispiel ihrer Großeltern, die sich beinahe autark aus dem eigenen Garten versorgten, hat sie dabei vor Augen. Mit 20 Jahren stellt man gern alles infrage und eingefahrene Normen auf den Prüfstand. Praktika bringen sie in Kontakt mit Züchtern von widerstandsfähigen Rinderrassen und mit alternativen Lebensmodellen. Mit verschiedenen WG-Erfahrungen, der ersten großen Liebe und der Anschaffung ihres Hundes lebt sie zunächst kaum anders als ihre Altersgenossen. Nach fast der Hälfte des Buches fragte ich mich schon ungeduldig, wann die Autorin endlich ihre Schuhe für Kanada schnüren würde. Die Wende in Hradetzkys Lebenslauf bringt ein Stipendium, mit dem sie ein Praktikum bei einer Rinderfarmerin in Kanada absolvieren kann, die nachdem „Low Stress Stockmanship“ arbeitet, das einem „Pferdeflüstern“ für Rinderherden entspricht. Kanada musste es sein, weil die Autorin nur hier ihren Hund ohne Quarantäne mit ins Land bringen kann. Anja bringt aus ihren Praktika Erfahrung darin mit, Rinder vom Pferderücken aus zu treiben, und kann sie auf der 1000ha-Farm erfolgreich einsetzen. Von der Farmerin Kelly erfährt sie, dass das Farmerpaar mit 600 Rindern seinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann und eine zweite Einkommensquelle benötigt. Für die Praktikantin aus Deutschland ist bei Kelly „alles anders“, als sie es bisher gesehen hat. Die Farmerin signalisiert ihren Tieren mit ihrer Körpersprache, dass alles gut ist, und kann mit dieser Fähigkeit ihre Rinder weitgehend allein betreuen. Anja erhält von Kelly eine wichtige Rückmeldung; sie ist immer in Bewegung, zu schnell für Rinder. Zuerst muss sie sich damit auseinandersetzen, wer sie ist, ehe sie Tiere leiten, markieren oder auf die verschiedenen Weiden bringen kann. Auch die Bekanntschaft mit einem Rodeo-Reiter, der irgendwo hinter Prince Rupert in einem Mobilhome lebt, bringt wertvolle Erfahrungen. Hier lernt Anja, sich Pferden gegenüber wie eine Leitstute zu verhalten. Ein reichlich kurviger Lebensweg führt Hradetzky schließlich in den Nationalpark Unteres Odertal, in dem sie – inzwischen mit Mann und Kind – ganz ohne Eigenkapital und Grundbesitz eine ökologisch verträgliche Rinderzucht aufbaut. Nach einem - für meinen Geschmack - zu langen ersten Drittel, wird der in Ichform verfasste Lebensbericht in der Mitte noch höchst spannend. Für die junge Landwirtin war oft der Weg das Ziel und jeder Einzelschritt nötig für ihre menschliche Entwicklung. Beeindruckt hat mich besonders die Beziehung zu ihrem Mann Janusz, dessen Eltern bereits das Samenkorn der alternativen Lebensweise legten, und zu den Mentoren, die Hradetzky weit mehr beibrachten als Rinder- und Pferdehaltung. Der entscheidende Einfluss von Vorbildern wird einem im Rückblick oft erst sehr viel später deutlich. Wer sich für Working Ranches und artgerechte Rinderhaltung interessiert, sollte hier zugreifen und im ersten Drittel evtl. querlesen.

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