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Buchdoktor

Posted on 9.12.2020

In einem bayerischen Dorf mit nur 87 Einwohnern hat sich eine kleine finnische Enklave mit einem speziellen Humor gebildet. Der finnische Journalist Matti Mäkinen verliebte sich in eine einheimische Biathletin, trainierte sie zeitweise und baute sich in Deutschland Schritt für Schritt eine Karriere als Sportjournalist auf. Sein Markenzeichen sind Mattis echte finnische Lebensweisheiten, die er mit hoher Wahrscheinlichkeit spontan erfindet. Die gemeinsame Tochter Annu kann sich nach dem Tod ihrer Eltern schwer von ihrem geerbten schiefen Haus trennen und arbeitet von zuhause aus als Übersetzerin. Als Annu aus der Stadt ins Dorf zurückzog, prophezeite ihr Kindheitsfreund Lars ihr, das sie im Dorf sehr einsam sein und niemanden haben wird, mit dem sie über ihre Übersetzungen sprechen kann. Lars, seine Frau Birte und Annu pflegen seitdem eine besonders enge Beziehung und Lars versucht unbeirrt, Annu zu verkuppeln. Der Unfall, bei dem Annu den Sohn der beiden verletzt, sprengt das Leben aller Beteiligten. Aron stehen ein langer Krankenhausaufenthalt und eine noch längere Reha bevor. Seine Eltern begleiten ihn und verschwinden damit aus Annus Leben. In die fatale Mischung aus unausgesprochenen Schuldgefühlen Annus und einer beginnenden Depression drängelt sich forsch ein Schaf. Das Tier, das wie ein Bumerang immer wiederkehrt, ist keine Halluzination, sondern schlicht ein von Hand aufgezogenes Jungtier, das sich nicht in eine Herde integrieren kann. Annu sollte eigentlich längst ihre Zukunft planen und sich mit Arons Familie aussprechen, stattdessen sorgt sie sich nun um Bumerang, ihr treu wiederkehrendes Therapie-Tier. Wer vor dem Leben flieht, muss damit rechnen, schnellen Schrittes vom Leben eingeholt zu werden. Annus seelisches Tief ruft den Rettungssanitäter Kalle auf den Plan, Kalles Pflege-Hund und eine gestrandete Urlauberin verstärken das „Team Aufmunterung“ im passenden Moment. Nina Sahm hat mit ihrer finnisch-deutschen Familie hinreißende Figuren geschaffen. Nicht nur vor den Mäkinens tun sich in der humorvollen Dorfgeschichte depressive Phasen und schwarze Löcher auf. Annus Familiengeschichte entfaltet sich in Rückblenden, deren Übergänge mir nicht immer sofort deutlich wurden. Ihr gedankliches Driften zwischen Kindheit, Heranwachsen und Gegenwart vermittelt Annus Persönlichkeit jedoch treffsicher. Obwohl ich mit Rückblenden auf mehreren Zeitebenen keine Probleme habe, kann ich mir vorstellen, dass gleitende Übergänge wie hier nicht allen Lesern gefallen. Das Zusammentreffen deutscher und finnischer Temperamente spiegelt sich hauptsächlich in Annus Erinnerungen an ihren verstorbenen Vater. Hier hätte mir eine Vertiefung gefallen, wie bayerisch oder wie finnisch Annu selbst ist. Auf der Grundlage von Einsamkeit, Schuld, Depression und dem gar nicht so idyllischen Dorfleben entfaltet sich eine charmant-tröstliche Geschichte, in der sich die Handelnden wie seinerzeit Münchhausen selbst aus dem Sumpf retten. „Tage mit Bumerang“ wäre als Debüt ein sehr guter Roman. Bei einer erfahrenen Autorin, die selbst in der Buchbranche arbeitet, fehlt mir im Text jedoch der letzte Feinschliff (Behauptetes, das mir nicht schlüssig genug gezeigt wird, und die mundartlich geprägte Erzählerstimme).

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