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Buchdoktor

Posted on 1.12.2020

2018, 2 Jahre nach der Volksabstimmung über den Brexit Großbritanniens, legte die 1989 geborene Reni Eddo-Lodge im englischen Original eine eloquente Schrift gegen den Alleinvertretungsanspruch weißer Feministinnen vor. Sie erläutert zunächst die Urangst der Briten als ehemalige Kolonialmacht, von Farbigen in eine Minderheitsposition gedrängt zu werden. Nach einer von ihr zitierten Berechnung würden weiße Briten (derzeit 80% der Bevölkerung) spätestens im Jahr 2066 in der Minderheit sein. Eine Hochrechnung, wie viele sog. Ankerbabys in England von Migrantinnen aus der EU geboren werden und welche Unsummen damit zu sparen wären, wenn die Geburt kleiner EU-Bürger auf britischem Boden verhindert würden, hat rassistische Positionen in Großbritannien gesellschaftsfähig gemacht. Eddos Ankündigung nicht mehr - mit Weißen - über Hautfarbe zu diskutieren, basiert auf der Überzeugung, dass ihre Generation, gebildet und angepasst, nicht britischer sein könnte, diese Tatsache in den Medien jedoch noch immer nicht nachvollzogen sei. Sie befasst sich mit Stereotypen, mit falschen/diskriminierenden Lobessprüchen wie „für ein schwarzes Mädchen bist du aber hübsch/erfolgreich/eloquent“, mit strukturellem Rassismus wie der Bewertung farbiger Personen vor Gericht, den Wohnverhältnissen und dem höheren Armutsrisiko farbiger Briten. Ein zentrales Thema Eddo-Loges ist die Übernahme feministischer genderbezogener Positionen durch weiße Akademikerinnen. Schließlich kratzt die Autorin kurz die „Rückseite“ von Kritik an rassistischen Einstellungen an, nämlich die Selbstzensur, die Polizei und Behörden sich auferlegen, um nicht als Rassisten bezeichnet zu werden. Dieses Thema erfordert sicher mehr als nur Appelle, ich finde es viel zu kurz abgehandelt. Die entscheidende Frage ist hier für mich, was ich aus einem explizit auf britische Verhältnisse bezogenen Aufruf profitieren kann. Eddo-Lodges preisgekrönter Text erläutert u. a. den Zusammenhang von sozialer Schicht, Lebensverhältnissen und Hautfarbe. Er bezieht sich auch auf die - aus deutscher Perspektive ungewöhnliche - Selbsteinstufung von Briten in Klassen. Die Autorin selbst betrachtet sich als Anglistin und Journalistin als „Arbeiterin im Dienstleistungsbereich“. Ein entsprechendes Klassenbewusstsein kennen wir in Deutschland nicht, hier erodiert die klassische Arbeiterschicht seit langem, deshalb halte ich Eddo-Lodges Statements für kaum übertragbar. Die Interpretation empirischer Daten fällt im Buch für meine Ansprüche zu schmal aus. Wenn z. B. je nach Herkunft 30-65% farbiger Erwachsener in schlecht bezahlten Jobs arbeiten und die 65% die pakistanische Community betreffen, würde ich gern wissen, wie dieser eklatante Unterschied zustande kommt. Rückblickend sind es die fehlende Auseinandersetzung der Autorin mit durch Zuwanderung importierten rassistischen Einstellungen und mit etablierten Parallelgesellschaften, deren Traditionen einer gleichberechtigten Teilhabe im Weg stehen können, die das Buch für mich uninteressant machen. Durch den verengten Focus einer Geisteswissenschaftlerin auf die speziell britischen Verhältnisse halte ich den Aufruf eher für deutsche Leser mit Landeskenntnissen für interessant.

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