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Gabriele

Posted on 19.10.2020

Was das Cover verspricht, hält der Inhalt des Romans: Eine Zugfahrt durch Kanadas Weiten. Die LeserInnen begleiten die unterschiedlichsten Reisenden im Northlander, im Transcontiental und anderen Zügen. Wer sich eine ungefähre Übersicht verschaffen will, kann das anhand des Vorsatzblattes machen. Die Reise von Gladys Comeau führt durch den Norden von Ontario und Québec, zuerst nach Süden, dann nach Westen, weiter nach Osten und schließlich wieder nach Norden. Niemand versteht, warum sie ihre lebensmüde Tochter alleine zurückließ, nachdem sie 54 Jahre lang um deren Wohlergehen besorgt war. Aufgebaut ist die Geschichte wie eine Reportage, geschrieben von einem Englischlehrer, der verhindern will, dass noch mehr Zugstrecken stillgelegt werden. Er liebt Züge („durch meine vielen Reisen und die Begegnungen, die ich dabei machte, entdeckte ich eine neue Art zu leben“ - Seite 214) und beschreibt seine Reiseerlebnisse. Seine Erzählweise mäandert von hundertsten ins tausendste und man hat oft das Gefühl, dass er den Faden verliert. Auf diese Weise entstehen herrliche Porträts der unterschiedlichsten Menschen. Besonders eindrücklich ist die Geschichte des „school-trains“. Gladys, als Tochter des reisenden Lehrers in diesem Zug geboren, hat als Kind mit ihrer Familie darin gewohnt und das Land und seine Einwohner kennengelernt. Deutlich wird auch, wie wichtig die Züge für all die Einwanderer der vergangenen Jahrhunderte waren. Seite 89: „Sie waren genauso Kinder der Schienen wie Kinder des Waldes, und viele von ihnen blieben ein Leben lang bei der Eisenbahn. Sie arbeiteten als Bremser, Lokomotivführer, Telegrafist, Fahrdienstleiter.“ Ich habe mich auf dieser Reise sehr wohl gefühlt, fast als säße ich selbst im Zug. Mit Interesse lauschte ich den Erkenntnissen des Erzählers und „erfuhr“ im wahrsten Sinne des Wortes mehr über Gladys und die Menschen, die sie kannten. Für mich war das Lesen ein richtiger Genuss. Den Gegensatz zwischen der journalistischen Herangehensweise des namenlosen Erzählers und den Aussagen von Gladys Freunden und Bekannten empfand ich als sehr lebendig. Trotz der Verirrungen „Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo ich war“ (Seite 248) verlor mich das Buch nur ein einziges Mal für kurze Zeit. Für mich ein Lesehighlight im Coronajahr. Den Namen der kanadischen Autorin werde ich mir merken!

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