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stefanie aus frei

Posted on 14.9.2020

Eine Lektüre wie eine buchgewordene Achtsamkeitsübung Nach dem beruflichen Erfolg als Autor ganz und gar verschiedener Werke verkündet der Titelheld Jasper Gwyn zu Beginn dieses wunderbaren Romans, keine Bücher mehr schreiben zu wollen. Sicherheitshalber entzieht er sich erst einmal der Welt: “Jasper Gwyn blieb zweiundsechzig Tage in dem kleinen spanischen Hotel, eine angenehme Zeit. Als es ans Bezahlen ging, waren unter den Extrakosten zweiundsechzig Tassen kalte Milch, zweiundsechzig Gläser Whisky, zwei Telefonate, eine gesalzene Rechnung der Wäscherei (hundertneunundzwanzig einzelne Posten) und der Kauf eines Transistorradios verzeichnet – was einen gewissen Eindruck von seinen Neigungen zu vermitteln mag.“ S. 13. Ich muss gestehen, dass ich mir gerade bei der Wäschereirechnung irgendwie Fragen stellte, und so blieb das auch, das ganze Buch über: Also hat er täglich sowohl ein Glas Milch als auch ein Glas Whisky getrunken – hoffentlich einzeln – und er hat täglich zwei frisch gereinigte Wäschestücke getragen, 5 Posten zusätzlich – was mag das gewesen sein, zählen Socken und, nun ja, Unterhosen, zusammen als ein Posten Unterwäsche und das Hemd war der zweite Posten…? Gwyns Entschluss führt jedoch bald zu einem Problem: Schreiben stillte sein Bedürfnis nach der „täglichen Sorgfalt, mit der Gedanken in der geradlinigen Form eines Satzes angeordnet werden“ S. 21, S. 18. Um sich von entsprechend auftauchenden körperlichen und seelischen Problemen abzulenken, führt er etwas durch, das man heute auch als „Achtsamkeitsübung“ bezeichnen würde – er führt alle Handlungen ganz langsam durch - und bekommt schließlich in einer Galerie die Erleuchtung bei der Betrachtung von fertigen Bildern und Fotos dazu aus dem Erstellungsprozess: „Er betrachtete wieder das Foto im Katalog, dann abermals das Porträt an der Wand – ganz offensichtlich war zwischen dem Foto und dem Gemälde etwas geschehen, etwas wie eine Wanderung. Jasper Gwyn überlegte, dass sehr viel Zeit nötig gewesen sein musste, eine Art Exil, und sicherlich auch die Auflösung sehr vieler Widerstände. Er dachte nicht an irgendeinen technischen Kniff, und auch die mögliche Kunstfertigkeit des Malers schien ihm nicht entscheidend, sein einziger Gedanke war, dass ein geduldiges Handeln sich hier ein Ziel gesetzt und es schließlich erreicht hatte, denn es war ihm gelungen, den Mann mit dem Schnurrbart nach Hause zurückzubringen. Ein sehr schönes Vorhaben, fand er.“ S. 43 Daraus reift der Beschluss, als Kopist zu arbeiten – er will Porträts anfertigen von Menschen, allerdings in Schriftform. „Er vermutete nämlich, dass das Schreiben, wenn man ihm den naheliegenden Weg in die Romanform verweigerte, sich etwas einfallen lassen würde, um zu überleben, einen Trick, irgendetwas.“ S. 81 Er bereitet seine zukünftige Tätigkeit sorgfältigst vor, bis hin zur richtigen Ton- und Lichtkulisse, diskutiert alles – nur in Gedanken – mit einer verstorbenen Zufallsbekanntschaft. „Darum ging Jasper Gwyn an diesem Montag in der Gewissheit aus dem Haus, dass nicht einfach nur der erste Tag einer neuen Arbeit vor ihm lag, sondern ein neuer Abschnitt seines Lebens. Das erklärte, warum er zielstrebig auf den Herrenfrisör seines Vertrauens zusteuerte, mit der festen Absicht, sich kahlscheren zu lassen. Er hatte Glück. Der Laden war wegen Umbau geschlossen.“ S. 91 Mr. Gwyn wirkt wie eine angenehme Mischung aus Miss Marple (nein, hier bitte nicht in der unterhaltsamen, aber textfernen Darstellung durch Margaret Rutherford, sondern wie in den Büchern beschrieben, maximal noch wie die Interpretation durch Joan Hicks oder Helen Hayes), wenn sie freundlich mit jemandem plaudert, um etwas herauszufinden, und sich dabei ihren Teil denkt, gekreuzt mit einem der Dandys aus Oscar Wilde. Der Roman ist durchzogen von einer ruhigen Grundstimmung, Sätzen zwischen Ironie und Melancholie, manchmal lakonisch: „Dann gingen sie zusammen in den Park, damit Martha Argerich ihr Häufchen machte. Sie war ein Grand Griffon Vendéen.“ S. 62 Mr. Gwyn ist wieder so jemand, dem man stundenlang zuhören könnte – ich werde wohl noch das Hörbuch testen – dabei passiert eigentlich gar nicht so furchtbar viel bzw. alles passiert langsam, gründlich, im rechten Maß, mit einer gewissen Eleganz. Dann, ja dann passiert aber etwas, sowohl bei der neuen Arbeit Mr. Gwyns als auch mit seinem Leben und darauf folgend mit seinem ersten „Modell“ Rebecca, die danach seine Assistentin wurde. Jeder von uns kennt sicherlich diese Bücher oder, mehr noch, Kurzgeschichten, die wir dann früher in Schule und weiter interpretieren mussten, im Sinne von: Finden Sie Motive von x (Melancholie, der Romantik, typisch für Walser usw.) im Text. Oder: Suchen Sie nach Bezügen zum Thema y zwischen den Werken von A und B. Ich habe zwar immer gerne gelesen, aber diese Aufgabe oft als „Überinterpratation“ gehasst. Gerade die Grundhandlung von Mr. Gwyn benötigt diese nicht, ich empfand die Lektüre einfach als Genuss. Gegen Ende dieser in Buchstaben gegossenen Achtsamkeitsübung wird aber ein Kunstgriff angewendet, nun, ich möchte hier nicht zu viel verraten, aber ich denke, man wird vielleicht wie ich freiwillig! diese Vergleichsarbeit wie früher auf sich nehmen, wie ich das Buch anhand gewisser Hinweise nochmals überschlagen und neu sehen, um dann viel mehr Mr. Gwyn zu verstehen. Überraschend! Vielleicht sollte mein nächstes Buch dann doch gleich eines von denen mit den vielen zweideutigen und verschlungenen Textpfaden sein, Döblin oder Ernst Augustin… „Für Caterina de’Medici Und den Meister von Camden Town.“ S. 213 Das Cover mit dem Blick durchs Schlüsselloch und den vielen scherenschnittartigen Köpfen passt übrigens hervorragend zum Thema. Ergänzung: Es scheint noch kein Hörbuch zu geben!

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