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evaczyk

Posted on 9.9.2020

Sprachgewaltigs Familienporträt Fulminant, ausdrucksstark, bildgewaltig - Helena Adler hat mit "Die Infantin trägt den Scheitel links" ein krachendes Familienporträt einer österreichischen Bauernfamilie geschrieben. Es ist ein Buch wie ein Gemälde, mit nicht immer schmeichelhaften Beschreibungen der Familie aus der Sicht der jüngsten Tochter der Familie, die sich einerseits am Ende der familiären Hackordnung fühlt, andererseits mit ihrer scharfen und bissigen Beobachtungsgabe das Leben auf dem Hof kommentiert. Die Wortwucht schlägt schon gleich auf den ersten Seiten durch, wenn die vierjährige Erzählerin eine gemeinsame Mahlzeit der Großfamilie beschreibt. Mehrere Generationen leben unter dem Dach, und vor allem die Urgroßeltern werden eindrücklich porträtiert: "Die langen Finger der Urgroßmutter stehen ab wie spitze Holzschiefer vom Tisch ab, um den wir alle sitzen. Die Arbeiterhände des Urgroßvaters sind übersät von Altersflecken und hervortretenden Adern. Sie ragen aus den Ärmeln seiner braunen Wollweste heraus wie die Köpfe von Schildkröten aus ihrem Panzer. Nackt und zerfurcht. Die Hände der beiden berühren einander nicht. Sie greifen nicht nach oben, denn es sind Hände aus dem Bauernstand, Sie Magd, er Knecht, die Genetik einer Gesindeschicht," Das ist großes Kopfkino von Anfang an, und die Brüche innerhalb der Familie sorgen für die kleinen Dramen im Alltag - ganz zu schweigen von dem großen, als die Erzählerin den Bauernhof im zarten Alter von vier Jahren abfackelt. Kann ja mal passieren. Es war auch eine Art Racheaktion, wurden doch die Welpen der Wolfshunde getötet, wie es eben mit unerwünschten Tiernachwuchs auf dem Hof häufig geschah. Überhaupt fühlt sich das Mädchen ihren "Wölfen" häufig näher als den eigenen Angehörigen: Die Mutter steigert sich in ihre Religiosität hinein, der Vater trinkt, die älteren Zwillingsschwestern mögen als Eisläuferinnen beeindrucken, nicht aber durch schwesterliche Fürsorge: Sie drohen der Kleinen, sie einzuschläfern. Wer solche Schwestern hat, braucht keine Feinde. Mit ihren Gewaltphantasien ist aber auch die Erzählerin ganz sicher kein armes Hascherl, sondern in der Familie als "kleine Satansbrut" bekannt. Die "Infantin" erlebt eine Kindheit, die unendlich weit entfernt ist von Helikopter-Eltern, Mama-Taxi und dem gefüllten Terminkalender voll mit künstlerischer Frühförderung, Ballettraining und Musikunterricht wohlsituierter Stadtsprösslinge. Zwar kann das begabte Mädchen das Gymnasium besuchen und damit Aufstiegsträume der Familie umsetzen, doch dort spürt sie den Unterschied ihres Lebens und dem der Stadtkinder nur noch stärker. Die Bauernkinder erziehen sich im wesentlich selbst, durchaus ruppig mit Rudelbildung, in dem die gemeinsame Verwahrlosung voranschreitet und gleichzeitig Freiheit zelebriert wird. Auch die Autorin wuchs auf dem Land auf, da fragt man sich natürlich, wie weit das Buch ein (Zerr-)Spiegel der eigenen Familie ist. Aus den Schilderungen des Familienlebens sprechen Liebe und Hass zugleich. Helena Adler lässt den Leser die Infantin durch die Pubertät und ins Erwachsenenalter begleiten, zu dem Punkt, wo sie eine grundlegende Entscheidung über ihre Zukunft treffen muss. Manches in dieser Dorfkindheit wirkt grotesk überzeichnet, manches liebevoll verspottet. Langweilig ist dieses Buch ganz sicher nicht.

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