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gwyn

Posted on 6.9.2020

«Krach! Bum! Josef Landau saß aufrecht im Bett, sein Herz raste wie wild. Dieses Geräusch – es hörte sich an, als hätte jemand die Wohnungstür eingetreten. Oder hatte er das nur geträumt?» Drei völlig verschiedene Geschichten, die letztendlich das Gleiche erzählen: Drei Kinder mit ihren Familien auf der Flucht aus ihrer Heimat, in dem Vertrauen, ein besseres Leben zu finden. Niemand flieht freiwillig und lässt alles, was ihm lieb ist, zurück. Drei Jahrzehnte, drei Mal Hoffnung. Der jüdische Junge Josef ist 11 Jahre alt, als er 1939 mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis fliehen muss. Isabel lebt im Jahr 1994 in Kuba, Hunger und Armut lassen den Vater gegen Castro demonstrieren – und nun bleibt nur noch die Flucht in einer Walnussschale Richtung Miami. Der 12-jährige Mahmoud wird im Jahr 2015 nach einem Bombenangriff obdachlos und die Familie verlässt das zerbombte Aleppo, um nach Deutschland zu gelangen. Ein Buch, das zwischendurch die Luft zum Atmen nimmt. «Isabel Fernandez brauchte nur zwei Versuche, um das magere, buntgescheckte Kätzchen unter dem rosafarbenen Betonziegelhaus hervorzulocken und es aus ihrer Hand ressen zu lassen. Das Kätzchen war hungrig, so wie alle in Kuba …» Die drei Geschichten werden parallel erzählt. Kurze Kapitel, die je mit einem Cliffhanger enden, mit schwierigen Situationen. Das macht das Buch ziemlich spannend. «Obwohl ihre Wohnung nicht weit weg war (von der Schule), nahmen Mahmoud und Walid jeden Tag einen anderen Tag nach Hause. Manchmal gingen sie durch Seitengassen – auf den Straßen hielten sich oft Kämpfer der Armee auf, die wiederum Angriffsziel der Rebellen waren. Außerdem waren zerbombte Häuser gut, um sich zu verstecken.» 1938, Berlin: Es beginnt mit der Reichskristallnacht. Josef Vater ist ein angesehener Anwalt. Doch als Jude landet er wegen einer Geringfügigkeit zur Strafe für kurze Zeit in einem Konzentrationslager. Die Regierung erlaubt plötzlich, dass Juden aus Deutschland ausreisen dürfen. Die Mutter besorgt Schiffspassagen Richtung Kuba, da der Vater entlassen werden soll. Doch nach seinem Gefängnisaufenthalt ist er psychisch krank, was die Kinder während der Reise verstört. Die Überfahrt auf der St. Louis ist für die Kinder ansonsten ein Spaß, denn endlich werden sie nicht mehr als Juden beschimpft und dranglisiert, es gibt viel Abwechselung, Partys, einen Pool. Doch auf Kuba angekommen, darf niemand von Bord gehen, auch die USA lehnt die Flüchtlinge ab, es geht zurück nach Europa, das Drama kommt hier am Ende … 1994, Havanna: Nach Auflösung der UDSSR wird Kuba nicht mehr von Russland unterstützt, genannt periodo especial. Das Castro-Regime konnte nur durch die massive Unterstützung der UDSSR überleben, die Lebensmittel, Energie usw. gratis zur Verfügung stellte. Nun herrscht Hunger und es gibt Volksaufstände, bekannt als der Maleconazo oder Habanazo. Isabel lebt mit ihrer Familie in Havanna. Ihr Vater hat bereits ein Jahr lang im Gefängnis gesessen, weil er versuchte zu flüchten. Als er bei einer Demonstration erkannt wird, weiß er, die Polizei wird ihn wieder einsperren. Am gleichen Tag wird durch das Radio verkündet: Wer Kuba verlassen will, soll es tun. Wer weiß, ob es sich Fidel nicht wieder anders überlegt, denken viele und machen sich sofort auf, Kuba zu verlassen. Ein Nachbar hat selbst ein Boot gebaut, und so fliehen die beiden Familien mit mehreren Generationen, hoffen, dass die kleine Jolle hält. Ausfall des Motors, Sturm, vom Kurs abgekommen, Haie ... es wird eine harte Fahrt. Hier ist ein kleiner historischer Fehler, was letztendlich dem Leser egal sein soll: Bis April 1995 galt, dass jeder Kubaner in den USA automatisch Asyl erhielt. Auf Grund der Massenflucht wurde dann seitens der USA die sogenannte wet foot dry foot policy (Nasser-Fuß-Trockener-Fuß-Politik) bestimmt. Hatte jemand die Füße auf US-amerikanischen Boden gestellt, durfte er in den USA bleiben. Wer auf dem Wasser erwischt wurde – der Küstenschutz hat stark patrouilliert – wurde zur Marinebasis Guantanamo Bay gebracht und von dort nach Kuba ausgeschifft. 2015 in Aleppo: Mahmouds Familie wird durch einen Bombenangriff obdachlos, Handys, ihr Erspartes und Auto ist alles, was ihnen verbleibt. Mit dem Auto versuchen sie, in die Türkei zu gelangen. Ziemlich bald geraten sie zwischen Rebellen, das Auto wird zerschossen, sie fliehen zu Fuß weiter durch Krisengebiet. Von der Türkei aus sind sie unterwegs mit Bus und Taxi wechselnd zum Meer, warten lange auf ein Boot. Die Überfahrt nach Griechenland entwickelt sich zum schrecklichen Drama. Raub, Erpressung, mal über den Tisch gezogen, bedroht, beschimpft, geschlagen … die Flucht ist grausam. Die Geschichten sind aus der Sicht der jeweiligen Kinder beschrieben und gehen wirklich ans Herz. Und es sei gewarnt, Verluste gibt es in jeder Familie, realitätsnah. Doch es gibt auch Hoffnung. Das Buch entwickelt durch die wechselnden kurzen Kapitel einen Sog. Trotz der verschiedenen Geschichten verliert man nie den Überblick, der Name der Protagonisten steht als Überschrift. Es gibt heftige Situationen in den Geschehnissen, die für Kinder sicher ergreifend sind – nicht nur für sie. Das Buch wird vom Hanser Verlag ab 12 Jahren empfohlen und liegt damit sicher an der der unteren Grenze. Ich empfehle eher 13 / 14 Jahre, wenn es sich um ein sensibles Kind handelt. Auf jeden Fall sollte man mit den Kindern über das Gelesene reden und sie nicht mit den Ereignissen allein lassen. Die Handlung ist nicht nur spannend, es ist historisch interessant, da es sich bei allen drei um geschichtliche Ereignisse behandelt: Die Irrfahrt der St. Louis und die Unmenschlichkeit der vielen Länder, die sich weigerten, die jüdischen Passagiere aufzunehmen. Der Maleconazo oder Habanazo, die Hungersnot auf Kuba (bedint durch den Zefall der UDSSR) mit Aufständen, der Massenflucht und der daraus resultierenden wet foot dry foot policy der USA. Die Flüchtlingskatastrophe der Syrer durch den Krieg bedingt, und die Behandlung der Flüchtlinge durch die europäischen Staaten auf ihrem Weg ist uns täglich vor Augen. Das Meer ist voller toter Menschen – die Parallelen sind nicht zu übersehen. Interessant ist auch das Ende, denn hier hat Alan Gratz die Stränge verwoben. Ein historisch-aktuelles Jugendbuch, das klar punktet, emotional an die Nieren geht! Eine klare Empfehlung meinerseits für Lehrer, dieses Buch als Schullektüre einzusetzen. Thematisch ist es in diversen Fächern einsetzbar und kombinierbar als Projekt. Am Ende finden sich Landkarten, die die Fluchtrouten der Familien darstellen und so etwas wie ein Nachwort der Protagonisten. Alan Gratz ist Autor ist ein bekannter Autor für Kinder und Jugendliche. Er wurde 1972 in Knoxville, Tennessee geboren und lebt mit seiner Frau und Tochter im westlichen North Carolina. Nach seinem erfolgreichen Kinderbuch Amy und die geheime Bibliothek (2019) erscheint mit diesem Buch das erste in Deutsch übersetzte.

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