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doreen

Posted on 4.9.2020

Wer muss bei dem Buchtitel »Nur mit dir« auch sofort an die gleichnamige Nicholas Sparks Verfilmung mit Mandy Moore und Shane West in den Hauptrollen denken? Mit dem Jugendroman von Emilie Turgeon hat der Film ansonsten aber wenig gemein. Bei uns ist die französische Kinder- und Jugendbuchautorin bisher auch eher unbekannt und gilt (laut Autorenvita des dtv Verlages) als eine Neuentdeckung im deutschsprachigen Raum. Wen(n) das nicht neugierig macht! Eine kleine Buchentdeckung ist »Nur mit dir« für mich durchaus. Gemeinsam mit der 16-jährigen Roxanne taucht man in die Welt der Gehörlosen ein. Denn die Ich-Erzählerin ist seit dem achten Lebensjahr taub. Warum weiß niemand genau – weder die besorgten Eltern noch der Psychologe an Roxannes Schule, die auf Schüler mit Handicap spezialisiert ist. Fakt ist: Roxanne leidet unter einer psychogenen Taubheit. Die Ursachen sind also keineswegs physischer Natur. Stattdessen hat ihre kindliche Seele die Ohren vor der Welt verschlossen und diese seither nie wieder geöffnet. Dem Auslöser für das verdrängte Trauma wird peu á peu auf den Grund gegangen. Das hält die Spannungskurve konstant aufrecht und am Ende schockierende Erkenntnisse bereit. Unterstützung bekommt Bücherwurm Roxanne derweil nicht nur von ihren sympathisch gezeichneten Brüdern Fred und Jim. Denn als sie auf einer Party auf den attraktiven Liam trifft, verschwindet die Stille plötzlich. Roxanne kann hören! Allerdings nur, wenn Liam in der Nähe ist. Wie könnte sie da nicht seine Nähe suchen und sich von ihm auf ein Coldplay Konzert entführen lassen? Natürlich rein freundschaftlich! Liam hat schließlich eine Freundin, die allen Grund zur Eifersucht hat. Zitat: Ich liebe das Leben, ich liebe die Menschen, ich möchte nur, dass es zu den Bildern auch einen Ton gibt! (aus Seite 18 »Nur mit dir« von Emilie Turgeon) Es ist schon faszinierend, in die stille Welt von Roxanne einzutauchen. Von ihrem vibrierenden Wecker am Morgen bis hin zu den besten Freunden Lucie und Jacob, die ebenfalls gehörlos sind und wie Roxanne das Lippenlesen perfektioniert haben. Einen Film ohne Untertitel schauen oder ein herannahendes Auto hören, all das ist für Roxanne keine Selbstverständlichkeit. Die Kommunikation findet zum Teil in der Gebärdensprache statt. Diesen Umstand merkt man als Leser/in allerdings kaum. Emilie Turgeon beschreibt zwar einige Gesten (z. B. die Rock-Hand für »Ich liebe dich«), die Dialoge in Gebärdensprache werden aber hauptsächlich durch eine kursive Schrift hervorgehoben. Die Momente, in denen Roxanne wieder Geräusche wahrnimmt, sei es im Kino oder auf einem Konzert, finde ich in der Übersetzung von Tatjana Michaels ebenfalls anschaulich dargestellt. Warum »Nur mit dir« für mich eine kleine (aber keine große) Buchentdeckung ist? Die Liebesgeschichte ist süß, für meinen Geschmack aber mit vielen anderen aus dem Genre Young Adult vergleichbar – manch (Charakter)Klischee inklusive. Eine Geschmacksfrage! Da ist z. B. die unsympathische Freundin von Liam, die keineswegs unbegründet das eigene Revier markiert. Gegen die vertraute Verbindung zwischen Roxanne und Liam hat sie definitiv keine Chance. Mir wird die Freundschaft zwischen Lucie, Jacob und Roxanne überdies zu stark auf die Gehörlosigkeit reduziert. Roxanne ist ein Mädchen, das keine Aufmerksamkeit mag und vieles für sich behält. Fast all ihre Gedanken und Entscheidungen kreisen um die Taubheit und erschweren eine Freundschaft auf Vertrauensbasis, vor allem in Bezug auf Lucie. Mir persönlich fehlte ein komplexerer Blick auf die Mitmenschen, fernab der Stille. Am Ende bekam ich fast den Eindruck, als sei eine Freundschaft zwischen Hörenden und Nichthörenden nahezu unmöglich. Die Auflösung um Roxannes Trauma und ihren Umgang mit der brisanten Wahrheit finde ich wiederum glaubwürdig und keinesfalls vorhersehbar ins Gesamtbild gesetzt. Trotz Kritik ist »Nur mit dir« ein für mich lesenswertes Buch! Kurz gesagt: »Nur mit dir« von der französischen Autorin Emilie Turgeon ist für mich eine kleine Buchentdeckung. Mit der 16-jährigen Roxanne in die Welt der (psychogenen) Gehörlosigkeit einzutauchen und ein schockierendes Erlebnis aus der Vergangenheit zu ergründen, war für mich faszinierend und fesselnd zugleich. Bei der (für mich) schablonenhaft angelegten Liebesgeschichte ist der Funke allerdings nicht komplett übergesprungen. Das ist aber Geschmackssache! Insgesamt ein lesenswerter Jugendroman mit einer brisanten Auflösung – die am Ende nicht nur einige der Nebenfiguren sprachlos macht. Das macht 3,5 (aufgerundete) Sterne.

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