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miss_mesmerized

Posted on 29.8.2020

Sie ist das jüngste Kind auf dem Bauernhof, was jedoch nicht bedeutet, dass sie alles hinnimmt, was die Zwillingsschwestern und Eltern von ihr erwarten. Sie hat ihren eigenen Kopf und widersetzt sich schon als Kleinkind. Im Dorf hat sie schnell ihren Ruf weg und auch die Großmutter warnte eindringlich davor, sie aus dem Auge zu lassen. Brutal und bösartig ist das Leben am Rande eines Berges, wo statt Idyll viel mehr mit Bigotterie und Aufrechterhaltung des schönen Scheins versucht wird, die Wahrheit zu verschleiern. So absurd der Titel und kurios das Cover, so grotesk ist auch die Geschichte des Heranwachsens, die Helena Adler erzählt. Es ist die Umkehrung des seit Jahren anhaltenden Trends zum Idyllisieren des Landlebens, wie es in Zeitschriften wie „Landlust“ und unzähligen DIY und Koch- bzw. Gemüse-Anbau-Sendungen angepriesen wird. Es ist die realisierte Hölle auf Erden mit einem starken Mädchen als Hausherrin. Der Roman, der auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, versetzt einem im steten Wechsel mal in puren Zorn, um sogleich wieder in abstruse Komik überzugehen. Bei der jungen Erzählerin steht zunächst noch das ewig dauernde Kampf mit den Schwestern im Vordergrund: „Ein anderes Mal erzählen sie mir davon, dass ich als Baby wochenlang von der Muttersau gestillt wurde, weil man ohne Muttermilch nicht überlebt und die Mutter auf Kur war, um sich von meiner Höllengeburt zu erholen.“ Familie ist alles, egal wie sehr man einander verabscheut. Und zu den entsprechenden Gelegenheiten wird getan, was getan werden muss. Glücklich scheint niemand zu sein, das wurde aber auch nie versprochen. Mit herrlich pointierter Sprache setzt die Autorin dies in Szene: „Als ich den Leichnam der Urgroßmutter noch einmal sehe, ist sie schon aufgebahrt und der gesamte genetische Rattenschwanz hat sich um ihr Totenbett versammelt.“ Mit zunehmendem Alter löst sie sich mehr und mehr von der Familie, nur um in ein fragwürdiges Milieu, in dem Diebstähle und Drogenkonsum angesagt sind, überzusiedeln. Sie versucht zu ergründen, weshalb ihre Familie so werden konnte, wie sie nun einmal ist, stößt aber auch da an die Grenzen dessen, was der gute Ton erlaubt: „Die Tante hat mir unlängst anvertraut, die Mutter habe ihrem Vater vom Missbrauch durch einen Verwandten erzählt, da war sie noch jünger als ich. »Der Klassiker«, sage ich und frage: »Wer?« Doch die Tante will es nicht verraten. Nur so viel: Die Mutter bekam eine Tracht für dieses Geständnis, eine Tracht Prügel für ihre Milchmädchenrechnung, für ihre Fehleinschätzung von dem, was wirklich war.“ Es ist weniger die Handlung als mehr die Art des Erzählens, die diesen Roman aus der Masse der jährlichen Veröffentlichungen hervorhebt. Zwischen Skurrilität und bitterböser Abrechnung schafft sie einen Gegenentwurf zu dem harmlos beschönigenden Heimatroman, der selbst im Krimigenre kaum etwas von seiner kitschigen heilen Welt einbüßt. Ein köstlicher Spaß nicht nur für all jene, die der Dorfwelt den Rücken gekehrt und sich in die Anonymität der Großstadt geflüchtet haben.

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