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Marcus Jordan

Posted on 17.7.2020

Meine beste Berlin Reise: dieses Buch. Man kennt ja sonst nur das Wort "unversehrt". Aber hier geht es um "versehrt", um das, was Berlin so passiert ist, um die Bilder, die auf der "Leinwand Berlin" gemalt wurden und nun abgewaschen und übermalt werden und um das enorme Tempo dieser Entwicklung. Das Tempo, das hier (wie auch sonst überall) zu hoch ist für die menschlichen Protagonisten und die abgeworfen werden und verwundert, traurig und mit fragendem Blick sitzen bleiben. Es geht um Narben und Lebensadern einer Stadt. Und um ihre Energiepunkte, ihre Quellen oder Lagerfeuer, nämlich um ihre prägenden Menschen. Gröschner erzählt ihre Geschichten und damit die Geschichte eines Berlins, das gerade verschwindet. Sie erzählt voller Mitleid, wenn auch nie für sich selber, obwohl auch sie zurückbleibt und ihr Berliner Leben irgendwie in einer neuen Stadt weiterleben muss. Sie erzählt mit verhaltener Wut und einem ständigen Seitenblick auf den Kontext und das größere Ganze. So wird das Buch zu vielem. Zum Monument, zur Anekdotensammlung, zum Psychogramm, zur Meta-Kapitalismuskritik, zur Historie und nicht zuletzt zu einer großartigen Unterhaltung – humorvoll, warmherzig, klug und in einer wunderbar greifbaren und sympathischen Sprache. Berlin habe ich wahrscheinlich hundert mal besucht und kenne es kaum. Wenn ich das nächste mal komme, werde ich es mit anderen Augen sehen. Es wird mir vielleicht zum ersten mal als Stadt etwas bedeuten. Das macht einerseits, dass mich eben nun Orte und Namen an die spannenden Hintergründe, den menschlichen Kontext und die faszinierenden Geschichten in diesem Buch erinnern werden. Es macht aber noch viel mehr, dass Gröschner so warm und direkt und unverstellt schreibt, dass man eben wirklich das Gefühl hat beizuwohnen. So gesehen meine schönste Berlinreise bis her. Gröschner schreibt „Blitzlichter“. Momentaufnahmen von Dingen, die sie gesehen und gehört hat. Skurril, lustig, manchmal nachdenklich. Und so beendet sie das Buch auch mit so einem Blitzlicht, das, wie man vermuten darf, sie selber beleuchtet und das gut steht für dieses Buch: "Prenzlauer Berg, Prenzlauer Alee, 23.59 Uhr Die Frau, die auf dem Fahrrad über die Brücke an der Prenzlauer Allee kommt und an der roten Ampel absteigt, ihr Handy aus dem BH holt, die Notizbuch-App aufruft und hineinschreibt: "Nachts mit dem Fahrrad vom reichen in den armen Prenzlauer Berg fahrend, frage ich mich, ob der Geruch nach frisch verbranntem Holz von den offenen Kaminen der Gentrifizierer oder von den offenen Feuern der Obdachlosen in den Büschen zwischen Thälmannpark und Ringbahn kommt.""

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