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awogfli

Posted on 16.6.2020

Das ist definitiv der schlechteste oder zweitschlechteste Boyle, den ich jemals gelesen habe. Von den 620 Seiten kann man mindestens 300 ungeschaut in den Mistkübel werfen, vielleicht wäre es sowieso besser gewesen, T.C. hätte gleich auf Seite 280 aufgehört, diesen Roman zu schreiben. Seit dem Moralkapitel und dem ersten Live-Toten im Strombad mit seinen Konzequenzen war die Story so zäh, als wäre ich mit klatschnassen schweren medizinischen Fußwickeln durch Maissirup gewatet. Die beiden Erzählstränge laufen dem Schriftsteller mit dem normalerweise unvergleichlichen erzählerischen Talent, für den ich Boyle immer schon gehalten habe, völlig aus dem Ruder. Sie verhalten sich wie ein Hochgeschwindigkeits-Intercity-Zug zu einem Regional-Bummerlzug, der an jedem Misthaufen anhält. Sie halten einfach beide nur gelegentlich in ein paar Stationen gemeinsam und dann auch noch zu völlig unterschiedlichen Zeiten. So verpasst der Leser einfach immer den Anschluss und friert frustriert in den zugigen Wartehallen des Plots. Dieser Umstand nervte mich derart, dass ich völlig das Interesse am Handlungsstrang Per-Fo mit Charly Ossinig und Bender verlor, oft wollte ich schon widerwillig diese Kapitel überblättern, hab mich aber dann doch mühevoll durchgebissen. Zugegeben nach mehr als 600 Seiten an der Endhaltestelle wird alles konsitent zusammengefügt, aber das ist viel zu spät und hat außerdem einiges von meiner wertvollen Leseaufmerksamkeit sinnloserweise und schändlich vergeudet. Ansonsten gibt es natürlich nicht nur Schlechtes von Willkommen in Wellville zu berichten. Die moralinsauren Gesundheitskapitel sind wundervoll und hacken in gewohnter TC-Manier bösartig satirisch und enlarvend auf die bessere Gesellschaft ein. Alle Figuren insbesondere Dr. Kellogg und die Lighthouses sind wundervoll gezeichnet. Die Szenen der Lighthouse-Ehe muss man sich überhaupt mal auf der Zunge zergehen lassen, die strotzen nur so von Einfallsreichtum und tiefenpsychologischen Einsichten, was man sich durch kleine impertinente Nadelstiche gegenseitig antun und wie man sich das Leben schwermachen kann. Witzig grotesk wütet Dr. Kellogg gleich einem Ritter in Rüstung gewappnet mit moralischer und medizinischer Empörung mit unverrückbarer Meinung gegen jegliche Bedürfnisbefriedigung. Das fängt beim lustfeindlichen Essen an, verteufelt Alkohol und Tabak, entzieht allen Menschen in seiner Umgebung auch seinen Kindern irgendwelche Gefühle der Zuwendung und hört beim Schlafen und bei Sex auf. Alles ist nicht nur moralisch verwerflich und unnötige Zeitverschwendung, Kellogg legt für sich und seine Patienten auch medizinische Gründe zurecht, fälscht Fakten und Daten wie unter dem Mikroskop, das alles ungesund sei, obwohl er genau weiß, dass er alle für dumm verkauft. Die berechtigte Frage nach dem Aussterben der gesamten Menschheit beim gänzlichen Verzicht auch auf ehelichen Sex wiegelt er ab. Sie sollte offensichtlich aussterben. Kellogg adoptiert, anstatt diesen grauslichen Sex zu praktizieren, wie ein Wilder irgendwelche Kinder und fühlt sich dadurch auch noch zum Empfänger von unendlicher Dankbarkeit berechtigt. Alles dient seiner Mission, die tierquälerische Erziehung eines Wolfes zum Vegetarier (der ihm letztendlich auch undankbar ins Bein beißt), die Manipulation des Publikums, Bakterien und Würmer im Fleisch unter dem Mikroskop zu entdecken, dieser unvergleichliche Sauberkeitswahn mit mehr als 5 Darmspülungen am Tag und das operative Herumgestochere in den Därmen der Patienten. Wenn man die Figur Kellogg entwicklungspsychologisch analysiert, muss man sagen, dass bei diesem Herrn in der annalen Phase nicht nur ein bisschen was schiefgegangen, sondern der Schaden quasi derart gravierend irreparabel und nur durch eine Lobotomie behebbar wäre. Diese Zwangsstörung lebt er aus und transferiert sie auch gleich mit medizinischen Theorien garniert auf die Umwelt - sowas nennt man in der Psychologie Übertragung. Dabei werden seine verrückten unverrückbaren Theorien auch nach einigen Toten im Sanatorium (sowohl auf menschlicher als auch auf tierischer Seite) nie auf Fehler untersucht, ein bisschen Fehleranalyse und Skrupel leistet sich der große Zampano nie. Da wird ordentlich die Realität verdrängt, Fakten mit der Mission geglättet, uminterpretiert und wieder in Einklang gebracht. Ein großartiger Ungustl - wirklich gut beschrieben. Auch der Boylsche Humor blitzt natürlich in diesem ewig langen Roman in gewohnter Manier durch: "Will klammerte sich an die Speisekarte, als wäre sie ein Seil, das über eine Grube mit Krokodilen gespannt war. Seine Tischnachbarn waren verstummt, konzentrierten sich auf seine gedankenreichen Erwägungen. Hier ging es nicht einfach ums Essen, das war Wissenschaft." Letztendlich bleiben bei diesem Werk nur 2,5 Sterne auf der Guthabenseite, weil es einerseits eben gar so lang war. Andererseits hat es mich nicht ganz so schlimm wie die Korrekturen von Franzen genervt, da zwar der Plot grottenschlecht, aber die Figuren in gewohnter Qualität konzipiert sind. Aus diesem Grund bzw. weil ich auch ein Fan vom T.C. bin, runde ich wohlwollend auf 3 Sterne auf. Fazit: Wie ich schon bei meiner Asterix-Besprechung diese Woche ausgeführt habe: Lest einen Boyle, aber bitte einen anderen.

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