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daslesendesatzzeichen

Posted on 24.5.2020

Alles beginnt harmlos. Eine amüsante Momentaufnahme des normalen Familienwahnsinns, wie es ihn wahrscheinlich tausendmal in Deutschland und anderswo in Europa gibt. Mutter kriegt Anruf aus Schule -> krankes Kind muss abgeholt werden. Nasenbluten. WAS?! Mitten im heiligen Vormittag, wo man wenigstens ein bisschen etwas von dem abgearbeitet bekommen möchte, was auf der täglichen To-do-Liste steht?! Doch schon nach wenigen Absätzen, in denen wir Mutter und Tochter beim Abholen im Schulsekretariat und auf dem Nachhauseweg begleiten, ahnt man, dass Töchterchen Helli nicht so ganz der Durchschnittsteenie ist, sondern, dass da doch noch etwas mehr im Argen liegt. Und dann haut Katharina, die Mutter und Hauptperson des Romans, gleich mal auf S. 18 noch einen Klopper raus: Das Etwas sitzt in meiner linken Brust und tut alles, was es nicht tun soll: Es wird nicht kleiner, ist nicht beweglich und schmerzt nicht. Es ist, was es ist. Der scheinbar belanglose Frauenromansanfang ist also nur Tarnung. Aber was kommt nun? Ein Buch über das Sterben einer Anfang 40-jährigen Frau? Ein Buch über Trauer und Tod? Über Erziehungsprobleme? Über Krebs? Keineswegs. Es bleibt chaotisch-fröhlich-spritzig, aber nicht oberflächlich. Die gute Katharina hat mit ihrer nicht gerade anspruchslosen Familie wahrlich genug zu tun. Richtig viel Zeit zum Nachdenken über dieses Ding in der Brust bleibt da nicht. Der Mann ist unter der Woche von Berufs wegen in Berlin, der große Sohn Alex ist zum Glück im Normalfall (nur jetzt nicht, denn er hat gerade seine erste richtige Freundin, was emotional vor allem für Mama Katharina schwierig ist) äußerst leicht zu handeln, was die jüngere Helli jedoch um ein Vielfaches „wettmacht“, da sie extrem betreuungsintensiv ist. Von der Ärztin hat sie den Stempel „ADHS“ aufgedrückt bekommen. Beim pädagogischen Reiten, wo Mutter und Tochter nachmittags hinpilgern und wo Helli nun schon länger als bei allen anderen Aktivitäten mitmachen konnte, ohne wegen ihres disziplinlosen Verhaltens rausgeschmissen zu werden, bekommt sie genau jetzt auch noch die „gelbe Karte“, weil sie komplett ausrastet. Schluchzend bricht Helli danach zusammen – und der Leser sitzt mit Kloß im Hals da, wenn sie sagt: „[…] Was mache ich denn falsch? Was soll ich denn noch tun? Wie soll ich denn sein?“ „Du sollst einfach Helli sein“, sage ich. Aber sie weint noch mehr. „Eben nicht. Ich will nicht mehr Helli sein. Hellisein ist scheiße.“ „Und du denkst, ein Medikament könne dir helfen?“ „Keine Ahnung. Aber wenn es macht, dass mein Kopf einfach mal die Fresse hält, bin ich schon zufrieden.“ Solch ein Ausbruch würde manche Mutter bereits an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen, doch Katharina atmet das quasi einfach so weg. Sie kann nicht anders. Sie liebt ihre „kleine“ Helli so sehr, sie liebt sie ein bisschen mehr als alle anderen das tun, wie sie einmal selbst zugibt. Vielleicht merkt sie intuitiv, dass Helli ohne diese Extraliebe und Extrageduld bereits vor die Hunde gegangen wäre. Zwischen Schulabholung und Reitunterricht passiert bei ihren schwulen Nachbarn nebenan noch so eben ein schräger Unfall – Theo mäht sich den Daumen ab. Und natürlich kann Katharina Theos Mann Heinz nicht komplett alleine lassen mit dieser Sache, also hilft sie auch da, beruhigt, sucht nach dem abhandengekommenen Finger und organisiert einen Krankenwagen. Was Katharina an einem Tag erlebt, spielt sich bei anderen nicht in einem Jahr ab. Das könnte übertrieben und unrealistisch wirken, passt aber in diesem Fall herrlich in diese temporeiche Geschichte. Atemlos durch die … nun ja, nicht gerade Nacht, aber durch das Leben, scheint die Parole der Hauptfigur Katharina zu sein. Man stolpert mit ihr durch den improvisierten Alltag, den sie zwischen Teilzeitjob als Lehrerin an einer Musikschule, ihren Aufgaben als Mutter von Helli und Frau eines kaum noch anwesenden Ehegatten namens Costa, zu bewältigen versucht. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Denn auch sie hat ja noch Wünsche, Träume, Ideen, Gedanken, auch wenn sie kaum zum Luftholen kommt. Da sind die Erinnerungen an ihre viel zu früh verstorbene Mutter (Sofort kommt die Angst in ihr hoch. Wird auch sie jung sterben müssen? Hach, wenn sie doch endlich den Mut und die Energie hätte, einen Arzttermin auszumachen, um das Etwas fachmännisch begutachten zu lassen!). Da gibt es noch den alten WG-Kumpel, den sie so gern mag, mit dem sie sich immer gut verstanden hat, und der GENAU heute Abend mal wieder seit Langem zu Besuch kommt. Da gibt es ihre große Liebe zur Musik, zu Schumann – und ja, auch zu ihrem Mann Costa. Nur irgendwie war man sich auch schon mal emotional näher … Früher war ihr Allheilmittel gegen alles das „Miteinander reden“. Wenn andere sich anschwiegen, erzählten sie sich alles. Jeder bezog den anderen in seine Gedankengänge mit ein, das schuf Nähe, ließ sie auch schwere Lebensphasen gemeinsam meistern. Doch wie soll das umsetzbar sein, jetzt, wo Costa so viel in einer anderen Stadt ist, weil er dort eine neue Arbeit gefunden hat? Wann hat das gegenseitige Erzählen aufgehört? Kann man das reparieren? Will man das überhaupt? Mareike Krügel hat mit „Sieh mich an“ ein kraftvolles, mitreißendes Buch geschrieben, durch das man wie von einem Wirbelsturm getragen hindurchfegt. Zwischendurch wünschte man sich, man könnte die Hauptfigur Katharina einfach nur mal in den Arm nehmen, damit sie einen Moment Pause hat von dem trubeligen Leben, das um sie herum tobt. Doch den Gedanken schiebt man gleich wieder beiseite, schließlich darf man den Anschluss ans Geschehen nicht verpassen, also heißt es aufgepasst, nicht zu viel sinnieren über die nachdenklichen Ansätze, denn im Roman und im echten Leben hat ja auch keiner die Chance, mal eben „Halt!“ zu brüllen und auf Pause zu drücken. Keinen Moment lang kommt Langweile auf in diesem Buch, ab und zu musste ich laut lachen, manchmal macht es einen sentimental, manchmal ängstlich – meistens jedoch beobachtet man bewundernd und ungläubig die Protagonistin, wie sie sich stoisch allen Höhen und Tiefen entgegenstemmt. Man nimmt etwas mit hinüber in die Wirklichkeit: die Kraft, die Methode „Weitermachen“, nicht stupide, sondern bewusst. Und dann kommt gegen Ende eine der herrlichsten Szenen, die ich kenne. Ein bisschen übertrieben vielleicht, aber herrlich schamlos, peinlich, ehrlich, umwerfend. Ein bisschen Bridget Jones, aber in klug und reif. Ich darf nicht zitieren, das muss jeder selbst lesen! Sonst geht der Charme verloren … Es ist eine Geschichte, die kein festes Ende vorgibt. So leicht macht es Mareike Krügel ihren Lesern nicht. Wir müssen uns selbst was überlegen. Ich bleibe positiv – und Sie?

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