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Gabriele Feile

Posted on 26.4.2020

Erich Fromm, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, ist einer der Menschen, den ich gerne kennen gelernt hätte. Er lebte von 1900 bis 1980 - ein bewegtes Leben über 2 Kontinente hinweg. Vier Jahre vor seinem Tod schrieb er "Haben oder Sein". Ich las es im Jahr 2020, während der so genannten Corona-Krise. Und war "geflasht" von der Aktualität und den weisen Voraussichten, die Fromm hatte. Als ich das Buch (von mojoreads natürlich) bekam, schlug ich es wahllos auf und landete bei der Kapitelüberschrift: "Gibt es eine Alternative zur Katastrophe?", die zur Einleitung gehört. Prima, dachte ich, passender geht es ja nicht. Das Buch handelt von den "Seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft", ist also sehr visionär geschrieben. Gerade war der Bericht des Club of Rome erschienen, sodass die Klimakatastrophe nicht länger verborgen bleiben konnte. Erstaunlich, dass wir heute, mehr als 40 Jahre später, anscheinend keinen Deut besser mit dem Planeten umgehen als damals. Fromm schreibt die Krisen unserer Zeit dem enormen Bedürfnis der Menschen nach "Haben" zu. Anstatt einfach zu "Sein" und "Sein zu lassen", wollen wir besitzen. Und um zu besitzen, konsumieren wir. Nicht nur beim Kaufen, auch beim Lernen, beim miteinander Reden, beim Erinnern, beim Lesen, Wissen, Glauben und Autorität Ausüben, überwiegt das "Haben" über das "Sein". Das drückt sich sprachlich konkret aus. Beispiel: Autorität ausüben zählt zum "Haben", eine Autorität sein zählt zum "Sein". Fromm kommt konsequenter Weise zur Habgier, die sich vor allem im wirtschaftlichen Kontext zeigt. Habgier und Neid sieht er als klare Zeichen einer Haben-Orientierten Gesellschaft. Im finalen Kapitel macht Fromm konkrete Vorschläge, wie wir eine neue Gesellschaft werden und sein können. Er weist darauf hin, dass viele der Vorschläge schon andere vor ihm gemacht haben. Und für alle gilt: sie sind so aktuell wie eh und je. Und das tut irgendwie weh. Eine Auswahl: - Schließen der Kluft zwischen armen und reichen Nationen (tun wir das nicht, werden Epidemien oder Terrorakte folgen) - Jährliches garntiertes Mindesteinkommen - bedingungslos - Frauen von der patriarchalischen Herrschaft befreien - Wirksames System zur Verbreitung von objektiven Informationen etablieren - Wissenschaftliche Grundlagenforschung von industriellen und militärischen Anwendungen trennen Das Buch ist wirklich ein Augenöffner und ein Klassiker, der niemals aus der Mode kommt. Leider, muss man sagen. Doch es gibt auch Hoffnung. Die vier Voraussetzungen für den Wandel von Menschen sind nämlich laut Fromm: - Wir leiden und sind uns dessen bewusst. - Wir haben die Ursache unseres Leidens erkannt. - Wir sehen eine Möglichkeit, unser Leiden zu überwinden. - Wir sehen ein, dass wir uns bestimme Verhaltensnormen zu eigen machen und unsere gegenwärtige Lebenspraxis ändern müssen, um unser Leiden zu überwinden. Tun wir es?

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