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gwyn

Posted on 31.3.2020

«Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.» Der erste Satz aus Tolstois «Anna Karenina». Wollen wir vom Glück einer Familie lesen, einer Idylle, konfliktfrei in rühriger Eintracht? Nein. Der Leser ahnt gleich, dass es hier auf ein Drama hinausläuft. Der erste Satz ist bekanntlich der schwierigste - und der wichtigste. Er muss den Leser verführen, weiterzulesen, und er verrät meist mehr, als wir bei der ersten Lektüre wahrnehmen. Meistens enthält er den Hinweis auf das Geschehen des ganzen Romans, auf die Stimmung. «Erste Sätze erheben sich scheinbar aus dem Nichts, aber sie bergen ein eigenes Autorenwissen über ihre Prämissen, über die Bedingungen und Abhängigkeiten, denen sie unterliegen. … Wer einen ersten Satz schreibt, erzeugt einen Kontext, den er danach ausbaut.» In vierzehn Kapiteln und 249 Anfängen erzählender Prosa beschreibt Alt das Grundmuster des ersten Satzes und teilt ihn in Kategorien ein. Der erste Satz soll den Leser neugierig machen, in den Handlungsrahmen einführen, der Geschichte eine Resonanz geben. Der erste Satz, die ersten drei Sätze, die erste Seite sind die Angelhaken in der Buchhandlung, mit dem der Autor seinen Leser fischt. Interessant ist Einteilung der Kategorien. Die Kapitel – Von der Schwierigkeit, mit dem Erzählen zu beginnen – Sprechende Götter und göttliches Sprechen – Die Souveränität der Literatur – Der Herausgeber redet – Steckbrief einer Person – Orte und Zeiten – Die Situation – Plötzliches Ereignis – Spannung – Stimmung – Bekenntnisse, Sprechakte, Gerüchte – Das Unwahrscheinliche – Kitsch und Triviales – Spiele der Ironie – Ende, der zweite Anfang – arbeiten das Ganze heraus. «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» (Franz Kafka, «Der Prozess») Hier bleibt alles unklar. Eine Verleumdung, eine Verhaftung, aber wer Josef K. ist und wer ihn verleumdet hat und warum, erfahren wir nicht. Er hätte nichts Böses getan, steht im Konjunktiv. Alt beginnt in der Antike: Die Anrufung der Götter. «Singe den Zorn oh Göttin …» (Homer -Ilias). In der frühen Neuzeit, des 16. und 17. Jahrhundert kam es in Mode, den Roman als Lügengeschichte zu präsentieren, zu beginnen, als wolle man von etwas Wahrem berichten, das man selbst erlebt habe. Beispiel Schiller, 1786, «Geisterseher»: «Ich erzähle eine Begebenheit, die vielen unglaublich erscheinen wird, und von der ich großenteils selbst Augenzeuge war.» Der Erzähler suggeriert, ein Beobachter der Ereignisse zu sein. Ein Roman ist Fiktion, aber schon ein erster Satz kann den Leser verführen, dass ihm hier eine wahre Geschichte offeriert wird. Baron von Münchhausen ist ein Beispiel für eine offene Lügengeschichte. Grass zeigt sofort im ersten Satz der Blechtrommel an, dass man dem Erzähler nicht trauen darf, denn er gibt unumwunden zu, Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt zu sein. Der erste Satz kann ein Steckbrief sein, ein Fahndungsbild. Er beschreibt die Figur, schält das markante heraus, den Ritter der traurigen Gestalt, benennt seinen Stand oder Habitus, Standort, Zeit, oder stülpt das Innerste nach außen, wie Patrick Süßkind in «Das Parfüm», der seinen Protagonisten mit widersprüchlichen Attributen beschreibt: «Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte.» Dieser Satz ist übrigens bei Alt gering falsch zitiert (hier das Original, abgeschrieben aus dem Buch), so dass er den Sinn verliert und es gab noch ein paar andere Zitate, die ich in anderer Formulierung kenne – möglicherweise andere Übersetzungen – was auf Süßkind nicht zutreffen kann. Schade, dass hier ungenau gearbeitet wird. Eine Variante des Auftakts ist Zeit und Ort und, wie Alt erklärt, in Verbindung mit einer Erfahrung bildet sie ein Dreieck, das zu einer Vielfalt von Kombinationen für den ersten Satz taugt. Mit einer Idylle zu beginnen, baut über Stimmungen und Spannungen auf. Eine weitere Möglichkeit der Eröffnung birgt ein dynamisches Ereignis. «Freitag, den 20. Juli 1714, um die Mittagsstunde, riss die schönste Brücke in ganz Peru und stürzte fünf Reisende hinunter in den Abgrund.» So beginnt Thornton Wilder «Die Brücke von San Luis Rey». Im weiteren Verlauf recherchiert ein Franziskanerpater, wie es zu diesem Ereignis kam. Ein Geschehen zieht den Leser in Bann. Suspense, eine Eröffnung durch Spannung. Hier einer meiner Lieblingssätze zum Thema: «Da liegt ein Kleiderhaufen an den Gleisen.», Paula Hawkins, «Girl on the Train». Ein dahingeschmissener Satz? Nein, er weckt beim Publikum Neugier, Ahnung, die Fantasie öffnet sich. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Stimmungen, Innenwelten, die durch äußere Umstände geprägt sind. Die Erwartung auf ein eintretendes Wetter: Sturm, glühende Sonne, Schnee, ein Abschied, ausgelöste Erinnerungen … «Bekenntnisse, Sprechakte, Gerüchte», das nächste Kapitel. Hier wird oft der Leser direkt angesprochen: Dies Buch ist für die, welche ... nur etwas für starke Nerven … «Preiswerteste Zecher und ihr meine allerkostbarsten Lustseuchlinge …» (Rabelais, 1532-1564, «Gargantua und Pantagruel». Manch einer beginnt damit, dass sein wirklicher Name anders lautet, oder damit, ein Verbrechen zu gestehen. Oder er offeriert etwas Persönliches, wie seine Homosexualität usw. Ist dies die Wahrheit oder gehen wir hier einem unzuverlässigen Erzähler auf den Leim? Peter-André Alt lässt sich auch über Kitschiges und Trivialliteratur aus – eben wie man einen guten Roman nicht beginnen sollte. Es werden die Großen der Literatur zitiert und die üblichen verdächtigen Bestseller ihrer Zeit. Insgesamt hat mir das Buch ziemlich gut gefallen, die Systematik, Anfänge von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Ich ahnte es die ganze Zeit, denn die meisten Zitate behandeln Schriftsteller von der Antike bis 1800. Aus 2000+ kam, glaube ich mich zu erinnern, lediglich ein Zitat vor. 95 % der Zitate beziehen sich auf Bücher, die 150 Jahre und mehr auf dem Buckel haben. Natürlich sind die Beispiele gut. Dabei gibt es einige Bandwurmsätze, mit denen man heute die Leser erschrecken würde. Im Kapitel Kitsch und Trivialliteratur trat diese schrecklich elitäre deutsche Germanistensicht zu Tage, was denn so alles trivial sei … Hermann Hesses Romane werden fast allesamt mit dem ersten Satz zitiert – was für ein trivialer Bursche doch Hesse war, ebenso Heinrich Mann … Da Peter-André Alt einen guten geschichtlichen Überblick über Modeerscheinungen der Romaneröffnung gibt, frage ich mich, warum er nicht im Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen ist. Schade, dass es sich bis in die deutschen Universitäten noch nicht herumgesprochen hat, welch gute Schriftsteller das 21. Jahrhundert zu bieten hat. Trotz dieser Kritik, das Buch ist ein gutes Standardwerk für Schriftsteller und alle die Menschen, die sich mit Literatur beschäftigen. Peter-André Alt ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, die er von 2010 bis 2018 als Präsident leitete. Seit 2018 ist er Präsident der Hochschulrektorenkonferenz.

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