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Babscha

Posted on 9.3.2020

Mit dem ersten Atemzug beginnt für den kleinen Wilbur Sandberg ein Leben voller Probleme, Widrigkeiten und innerer Leere. Seine Mutter stirbt bei der Geburt und der Vater verschwindet umgehend von der Bildfläche, ohne ihn nur gesehen zu haben. Körperlich unterentwickelt und schwach, startet Wilbur eine schier endlose Odyssee durch Waisenhäuser, mehr oder weniger gute Pflegefamilien, Therapiezentren und Besserungsanstalten. Kaum je findet Wilbur seelischen Halt und wirkliche Nähe zu anderen Menschen mit Ausnahme seiner ihn vergötternden Großmutter, die ihn als kleinen Jungen gemeinsam mit ihrem dubiosen Ehemann aus Amerika zu sich nach Irland holt und bei der er bis zu ihrem überraschenden Unfalltod zumindest einige (über)behütete Jahre verleben darf, die ihn allerdings in puncto dringend erforderlicher Persönlichkeitsentwicklung auch nicht weiter bringen. Der hochintelligente Junge lässt niemanden an sich heran, verliert sich zunehmend in Innenwelten aus Minderwertigkeitskomplexen gepaart mit Visionen einer Existenz als Filmheld a la Bruce Willis, verliert zeitweise (bewusst) die Sprache und kann, wenn es gar nicht mehr geht, nur noch über spontane Aktionen wie Brandstiftungen und nicht wirklich ernst gemeinte „Selbstmordversuche“ seiner inneren Verzweiflung Ausdruck verleihen. Es würde an dieser Stelle jeden Rahmen sprengen, auf alle Menschen, die er im Laufe der Jahre trifft und seine Erlebnisse mit ihnen einzugehen. Erst im frühen Erwachsenenalter schafft es Wilbur, sich der Welt soweit zu öffnen und vor allem eigene Entscheidungen zu treffen, die ihm ein halbwegs normales Leben ermöglichen. Der Autor lässt in seinem Buch sehr wirksam zwei Handlungsstränge nebeneinander her und von Kapitel zu Kapital auf einander zu laufen, nämlich die Erzählung der ersten zwei Lebensjahrzehnte des Protagonisten aus der Überschau und der auf der Gegenwartsebene als Zwanzigjähriger angesiedelte Bericht als Icherzähler. Dies ist clever umgesetzt und hält den Leser bei der Stange. Der verwendete Sprachstil des Ende des letzten Jahrhunderts angelegten Buches ist im Großen und Ganzen gelungen und eingängig. Leider hat Lappert in seinem epischen Werk aber etwas zu viel des Guten getan. Die Lebensgeschichte jeder eingeführten Person wird bis in die kleinsten Verästelungen ausgearbeitet, was spätestens ab der zweiten Hälfte für den Leser recht ermüdend ist, das Buch überfrachtet und den eigentlichen Haupthandlungsstrang eher behindert als fördert. Trotz aller Dramatik in der Person des Wilbur konnte ich auch eine emotionale Nähe zu seinem Charakter irgendwie nicht wirklich aufbauen, da er über fast das gesamte Buch hinweg in seiner totalen Verschrobenheit und der bewussten Ablehnung jeder Hilfe und Weiterentwicklung (und es gibt einige Mitwirkende, die es auch gut mit ihm meinen) irgendwie eindimensional bleibt und gerade im letzten Drittel als junger Erwachsener für mich als Person einfach nicht mehr nachvollziehbar ist. Vor diesem Erfahrungshorizont empfand ich zuletzt den Abschluss der ganzen story als irgendwie nicht zufrieden stellend und zu beliebig. Nichts desto trotz insgesamt ein interessant geschriebenes und lesenswertes Buch mit viel geschickt integriertem Lokalkolorit aus Irland und vor allem New York City.

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