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DasIgno

Posted on 9.3.2020

Gregor Gysi hatte ein bemerkenswert turbulentes Leben. 1948 geboren erlebte er bewusst nahezu die komplette Geschichte der DDR, zog als SED-Prügelknabe schlechthin in die Politik der Bundesrepublik ein und hat heute geschafft, was wohl kaum Linke schaffen: Er gilt parteiübergreifend sowohl in Politik als auch Gesellschaft als respektierte, herausragende Figur. Bis dahin war es ein weiter, oft schmerzhafter Weg, auf dem er nicht einmal seinen typischen Humor verlor. Diesen Weg, die kleinen und die großen Schritte, erzählt er in seiner Autobiografie. ›Ein Leben ist zu wenig: Die Autobiographie‹ erschien 2017 im Aufbau Verlag. Gregor Gysis Autobiografie umfasst 583 Seiten, die sich in 50 Kapitel gliedern. Mit Autobiografien ist es ja so eine Sache: Es gibt sehr viele und eine ganze Menge davon ziehen sich mehr so dahin. Die Grenze zwischen Anekdoten, die für Außenstehende tatsächlich interessant sind und solchen, die doch eher Seiten füllen, ist unpräzise. Und weil man als Autor eine besondere Beziehung zu dem Geschriebenen hat – es ist ja schließlich die eigene Geschichte, da wird man wohl am Besten wissen, was essenziell ist -, lässt man sich auch ungern reinreden. So verkommen viele Autobiografien zu etwas, was viel verspricht, am Ende aber doch nur echte Fans bei der Stange halten kann. Ein Grund, warum ich mit dem Genre nur in Ausnahmefällen zu tun habe. Um das gleich zu sagen, Gregor Gysi gerät auf knapp 600 Seiten nicht in die Gefahr, diese Grenze zum Uninteressanten zu überqueren. Das liegt auf der einen Seite daran, dass er ein wunderbarer Erzähler ist, auf der anderen an seinem Leben, das so ereignisreich war, dass er wohl auch problemlos die doppelte Anzahl Seiten hätte füllen können, ohne ins Belanglose abzudriften. ›Ein Leben ist zu wenig‹ erzählt so auch nicht nur Anekdoten, Gysi erklärt sich und sein Handeln ausführlich. Ob es nun seine Zeit in als Rechtsanwalt in der DDR, in der ihm vor allem im Nachhinein oft zu große Nähe zur SED-Diktatur vorgeworfen wurde, oder die in der frisch vereinten BRD ist, er erklärt seine Positionen und wie er zu ihnen kam. Gysi sucht keine Ausreden, er begründet stichhaltig – ob das nun individuell immer auf Gegenliebe stößt oder nicht. So ist seine Autobiografie in gewissem Maße auch ein ganz persönliches, politisches Manifest. Gysi skizziert seine Ideale und Realvorstellungen linker Politik. Auch wenn ich mit denen nicht immer übereinstimme, sie sind stimmig und zeugen von einer sehr langen Zeitspanne, in der er sie entwickelt hat. Betrachtet man das linke Spektrum der Bundesrepublik heute, mit all den Grabenkämpfen und idealistischen Schlachtfeldern, ist ›Ein Leben ist zu wenig‹ vielleicht aktueller denn je. Zu leicht verdrängen doch gerade wir Linken, dass Demokratie den Kompromiss voraussetzt. Was nicht heißen soll, dass man von Zeit zu Zeit seine Wertebasis über Bord werfen muss, aber Einzelheiten der idealistischsten Utopie muss man eben doch dem Kompromiss opfern, will man, dass die Utopie nicht für alle Zeiten eben eine solche bleibt. Das ist vielleicht die wichtigste Lehre, die man aus Gysis Autobiografie ziehen kann. Sieht man einmal von dieser linken Komponente ab, die sich selbstverständlich durch das ganze Buch zieht, bekommt man ein herrlich geschriebenes, durchweg reflektiertes Werk. Gysis Leben ist in gewisser Weise auch ein historisches, denn es beinhaltet fast die gesamte Geschichte der DDR inkl. der Einheit und ihrer leider nach wie vor anhaltenden Nachwehen. Aus diesem Blickwinkel ist ›Ein Leben ist zu wenig‹ fast noch interessanter, weil es vieles erklärt und Gysi ein Stück weit Versöhnungsarbeit leistet. Er klagt selten an, so kennt man ihn, sondern geht interessiert und mit offenen Augen durchs Leben und nimmt fast alles mit einer Prise beißendem Humor. Das mag ein Punkt sein, der ihn zu der lagerübergreifend respektierten Figur gemacht hat, die er heute ist. Wie ich eingangs sagte, es gibt nicht so viele Autobiografien, die ich vorbehaltlos weiterempfehlen würde; ›Ein Leben ist zu wenig‹ schließt sich dieser Gruppe definitiv an. Unterhaltsam, informativ und mitreißend geschrieben, ist es ein Werk, das Gräben überwinden helfen kann, in jedem Fall aber sehr schön zu lesen ist.

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