Profilbild von Simone Scamander

Simone Scamander

Posted on 1.2.2020

Worum geht's? Gaia arbeitet wie ihre Mutter als Hebamme und ist dazu verpflichtet, die ersten drei Neugeborenen eines Monats an die Enklave zu übergeben. Während die Menschen hinter den geheimnisvollen Mauern ein Luxusleben führen, kommen Gaias Familie und ihre Freunde gerade über die Runden. Trotzdem wagt niemand, die Gesetze in Frage zu stellen, schließlich kümmert sich die Enklave um die Versorgung der Bevölkerung. Am Tag ihrer ersten Entbindung ohne die Hilfe ihrer Mutter, werden Gaias Eltern verhaftet: Ihnen wird vorgeworfen, Notizen über die Herkunft der vorgebrachten Kinder geführt zu haben. Wochen vergehen, in denen die junge Hebamme ihre Pflichten erfüllt und auf die Rückkehr ihrer Eltern hofft. Nichtmal die Wachen der Enklave können ihr Auskunft geben! Aus der gesetzestreuen Gaia wird eine aufständische Kämpferin, als sie in den Entschluss fasst, ihre Eltern zu befreien und in die Enklave einzubrechen. Dabei macht sie eine entscheidende Entdeckung über das Geheimnis der verschwundenen Kinder... Kaufgrund: Ich war schon immer ein großer Fan von Dystopien. Die Kurzbeschreibung zu "Die Stadt der verschwundenen Kinder" hat mich quasi angesprungen. Es stand bereits länger auf meiner Wunschliste, und nach dem ersten Teil der "Cassia & Ky"-Reihe, die ebenfalls eine dystopische Zukunftsvorstellung behandelt, hatte ich definitiv Lust auf mehr. Meine Meinung: "Die Stadt der verschwundenen Kinder" erlaubt dem Leser keinen sanften Einstieg in die Geschichte. Man ist sofort mitten im Geschehen und begleitet Gaia bei ihrem ersten eigenen Einsatz als Hebamme. Mit dem ersten gelesenen Satz war ich dank O'Briens spannender und flüssiger Erzählweise im Lesefluss gefangen und konnte den Roman nicht mehr aus der Hand legen. Alle 462 Seiten habe ich in einem Stück verschlungen; so sehr hat mich Gaias verzweifelter Kampf um die Freiheit ihrer Eltern mitgerissen. Wenige Stellen erschienen mir etwas platt und flach, fielen aber kaum auf und waren schnell vorüber. Gaia, die junge Hebamme, ist die Hauptfigur des Romans. Sie durchlebt in der Geschichte viele Schicksalsschläge und lernt, damit umzugehen. Dies ist von O'Brien sehr einfühlsam beschrieben worden, sodass ich immer mit Gaia mitfühlen und mitfiebern konnte. Ich war überrascht, welche extreme Veränderung sie in der Geschichte vollzieht: Von der Untergebenen zur Rebellin. Ihr Wandel ist von verschiedenen Situationen, die sie erlebt, deutlich geprägt. Parallel zu Gaia verändert sich auch der männliche Protagonist, Leon. Bei ihm tritt dies allerdings erst später in Erscheinung. Bis auf die beiden Protagonisten Gaia und Leon, die ich augenblicklich in mein Herz geschlossen habe, erscheinen die anderen Charaktere eher blass und oberflächlich. Bei manchen ist es richtig schwierig, ihre Beweggründe nachzuvollziehen. Schade, wie ich finde, denn Nebenfiguren bieten so ein enormes Potenzial, das meistens ungenutzt bleibt. In diesem Buch hätte ich zum Beispiel gerne mehr über Sergeant Bartlett erfahren. Ich bin mir sicher, dass die Autorin dies im zweiten Teil ausbessern wird! Ich möchte aber fair bleiben; schließlich sind es nur Nebencharaktere... Die Handlung fand ich faszinierend und aufregend. Ich habe irgendwo aufgeschnappt, dass das Buch "Cassia & Ky: Die Auswahl" sehr ähnlich sei. Zugegeben: beide thematisieren dystopische Weltanschauungen. Allerdings ist das meiner Meinung nach auch die einzige Gemeinsamkeit. O'Brien verarbeitet es anders als Condie. Die Konsequenzen der Umweltverschmutzung, der Kriege und der extremen Energieverschwendung spielen eine viel größere Rolle. Während in "Cassia & Ky: Die Auswahl" die Obrigkeit versucht, jeden einzelnen Bürger zufrieden zu stimmen, lebt der Großteil der Bevölkerung in "Die Stadt der verschwundenen Kinder" in Armut und am Existenzminimum. Insgesamt wirkt die Welt, die nur aus der einen kleinen Stadt zu bestehen scheint, negativer und belasteter. Durch die beschriebenen Lebensumstände kommt man sich beinahe vor wie im Mittelalter, doch die vorher benannten Folgen machen diese Vorstellung keineswegs unglaubwürdig. Ähnlich verhält es sich mit der Unterwürfigkeit der Menschen außerhalb der Mauern. Sie haben nicht die geringste Möglichkeit, sich selbst zu versorgen, und sind damit abhängig von der Enklave. Vielleicht verändern sich die Gegebenheiten in der Fortsetzung grundlegend – das offene dramatische Ende des Buches lässt der Fantasie des Lesers in der Hinsicht freien Lauf. Den Titel des Romans finde ich ungeeignet. Sicherlich ist es schwierig, einen Begriff wie "Birthmarked" ins Deutsche zu übersetzen, aber so wird der Leser in die Irre geführt: Die Kinder sind NICHT verschwunden. Mehr dazu werde ich nicht verraten, immerhin sollt ihr euch selbst von dem Buch überzeugen! Cover: Passt überhaupt nicht! Ich war zunächst verwundert, als ich beim Durchstöbern der Neuerscheinungen auf dieses Cover stieß. Es kam mir bekannt vor! Kein Wunder, denn es ist dasselbe Cover, das auch "Glimmerglass" von Jenna Black ziert. Was hat sich der Heyne-Verlag da nur gedacht? Durch die doppelte Coververteilung verliert es völlig an Bedeutung und Individualität. Natürlich ist es trotzdem schön anzusehen, aber für mich ist der Bezug zum Buch wichtig. Davon kann hier leider keine Rede sein, schließlich ist nichts daran aussagekräftig. Ich habe auch den Sinn der zwei Gesichtshälften nicht verstanden. Um Gaia kann es sich nicht handeln... Fazit: Ein wunderbares Buch, das mich selbst nach dem Lesen nicht ruhig gelassen hat. Durch die vielen dramatischen und tragischen Wendungen – die mir einmal sogar die Tränen in die Augen trieben - überrascht die Handlung genau dann, wenn man meint, eine vorhersehbare Stelle entdeckt zu haben. Ich freue mich bereits jetzt auf die Fortsetzung! Insgesamt deswegen ganz klar: 5 Lurche!

zurück nach oben