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Sarang

Posted on 1.2.2020

Und dann haben wir uns geküsst. Oder ich habe ihn geküsst. Oder er hat mich geküsst. Ich weiß es nicht. Aber ich hab ihn geküsst, und er hat mich geküsst, fest, sehr fest, so fest, als würde er mich aufsaugen, und dann war es, als wäre ein ins Wackeln geratener Damm endlich gebrochen, und wir konnten uns nicht nah genug sein. - S. 216 »Inhalt« Jenna weiß, was Schmerz bedeutet. Jenna weiß, dass es viele Arten von Schmerz gibt. Den Schmerz von physischen und von psychischen Verletzungen. Doch Jenna hat mit dem Schmerz aufgehört. Mit dem Ritzen, um zu spüren, dass sie noch lebt. Obwohl sie davon nicht begeistert ist, hat ihr Vater sie nach ihrem Psychiatrieaufenthalt an einer neuen Schule angemeldet. An einer neuen Schule, an der ihr schnell klar wird, dass sie auch hier weiterhin Probleme haben wird, als 'normal' durchzugehen. So lebt sie immer an der Grenze zur Selbstverletzung und wird nur noch durch den Mailkontakt zu ihrem im Iran stationierten Bruder aufrechterhalten. Denn ihre Familie, die bricht schon seit Längerem auseinander. Doch Jenna ist nicht alleine. Denn Mr Anderson kümmert sich um sie. Er will ihr helfen, sich richtig einzugliedern. Aber warum eigentlich? »Wenn dich die Atemnot packt!« Ilsa J. Bick hat es einfach drauf. Das hat sie mit ihrem Roman „Atemnot“ nun mehr als bewiesen. Eine packende Geschichte aus dem Munde eines Mädchens, dessen Vorgeschichte für Gänsehaut und Mitgefühl sorgt. Die von Ilsa J. Bick messerscharfe, zarte, böse oder traurige Worte in den Mund gelegt bekommt und eine Story erzählt, bei der mich die Atemnot packte. »Das großartige 'DU'« „Atemnot“ ist in vielerlei Hinsicht genial. Ich liebe Verschachtelungen in Form von der Geschichte in der Geschichte. So begibt es sich, dass die Protagonistin Jenna die „Wahrheit“ am Anfang der Handlung auf ein Aufnahmegerät spricht, so dass sie jemandem alles erzählt und sich oft an dieses „Du“ wendet. Die Du-Perspektive finde ich ebenfalls großartig, vor allen Dingen, wenn sie so gut umgesetzt wird und grandios funktioniert wie in diesem Werk. Ilsa J. Bick hat in „Atemnot“ also schon einmal die allerbesten Voraussetzungen geschaffen, die mich dieses Buch sehr mögen ließen. Dann hat sie permanent noch einen drauf gesetzt. Er war... Er war schön, wie aus einem Traum. […] Er war ein Halbgott, und ich war, na ja... vor Ehrfurcht erstarrt. Als ob es einfach nicht wahr sein konnte, dass jemand so perfekt ist. Für dich klingt das garantiert kitschig, Bob. Aber so hab ich es halt empfunden. Das war so, und diesen ersten Augenblick voller Sonne und Licht und Schönheit werde ich nie vergessen, nie. - S. 29 »Tabuthemen« Unerwartete Wendungen und ein Schreibstil, bei dem es einem eiskalt den Rücken herunterläuft? Ist drin. Ein Handlungsverlauf, der einen aus den Latschen kippen lässt? Ist drin. Das Tabuthema einer verbotenen Liebe zwischen einem Lehrer und seiner Schülerin? Ist drin. Ein so starker Sog, dass man stundenlang jegliche Grundbedürfnisse ignoriert, egal, wie stark sie auch sein mögen? Ist drin. Momente, in denen man am Liebsten ins Geschehen hineinspringen würde, um wenigstens noch irgendetwas zu retten? Ist drin. Ein Showdown, bei dem so viele Glühbirnen über dem eigenen Kopf angehen, dass ein ganzer Kontinent davon erhellt werden könnte? Ist drin. Vielschichtigkeiten und Mehrdeutigkeiten, die sich erst durch „die Auflösung“ so richtig herauskristallisieren und „Atemnot“ eine wunderbare wie verstörende Botschaft tragen lässt? Ist drin. »Pageturner« Das Fazit dieser Auflistung ist, die ich übrigens noch viele Zeilen so weiterführen könnte, wenn jemand einen Pageturner lesen möchte, dann wird er ihn in „Atemnot“ finden. „Atemnot“ ist keine leichte Kost. Es ist ebenso schön wie schaurig. Ebenso glänzend wie dreckig und ebenso facettenreich, dass es in keine Schublade passt. Gleichwohl ist es nicht ganz perfekt. Obwohl ich gewisse Personen in diesem Roman anhimmelte, wirkt nicht alles zu hundert Prozent durchdacht oder wirkt so authentisch, wie ich mir das gewünscht hätte. »Emotionsgeladen« Aber das macht nichts. Weil „Atemnot“ in mir heftige Gegenreaktionen ausgelöst hat. Weil ich mich nicht vom Buch lösen wollte. Weil ich versunken bin, weil ich beim Lesen schreien und weinen wollte. Ilsa J. Bicks Werk birgt viele Emotionen, die sie so intensiv vermittelt, dass sie sich auf mich, auf ihre Leserin, übertrug. Und das, so finde ich, die Fähigkeit, die Menschen die Dinge fühlen zu lassen, die du schreibst, das ist die Kunst, die ein geniales Buch von einem netten Unterhaltungsbuch unterscheidet. Aus der Gewöhnlichkeit ausbrechen und mutig etwas Verwegenes in eine zunächst liebreizende Form gießen, die früher oder später ihre Krallen ausfährt und in dir versenkt. »Fazit« „Atemnot“ ist ein außergewöhnliches, spezielles und sehr besonderes Werk, bei dem sich die Autorin in ihrer Sprache und Metaphorik selbst übertroffen hat. Besser und packender geht es nicht mehr. Ein Buch, das viele Fragen aufwirft, atemlos zurücklässt und mich noch lange zum Nachdenken anregen wird. Nichts für sensible Nerven oder für Fans von Geschichten innerhalb der begrenzten Norm.

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