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gwyn

Posted on 24.1.2020

Der erste Satz: « Von Henriette Bernhard, geborene Schöning, soll hier die Rede sein. Von ihrem Mut und Übermut, von ihrem Glück und Unglück, von ihrer Schuld und Unschuld und dem Bedürfnis, das Richtige zu tun.» Ein Noir-Gerichtskrimi, der sich mit einem grausigen Kapitel der deutschen Nachkriegszeit beschäftigt. Henriette Bernhard, geborene Schöning ist im April 1970 angeklagt, das Haus ihrer Eltern angesteckt zu haben, wobei sie den Tod ihres Vaters in Kauf nahm. Die Angeklagte schweigt. Elsa Brennecke, die beste Freundin aus Kindheitstagen macht sich auf, dem Prozess zu folgen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Henni die Täterin war und sie bemüht sich, Entlastungszeugen für die Frau zu finden. Ein Jurastudent spricht sie an, er wolle seine Diplomarbeit über den Fall schreiben, und er möchte von ihr wissen, wie es damals in Monschau war, alles über Hennis Familie wissen, und auch er begibt sich auf Spuren, die die Unschuld beweisen könnten. Über Elsas Bericht geht es zurück in die Nachkriegszeit. «Ja, ja! So einfach machen die sich das. Legen sich die Dinge zurecht. Hier ein bisschen was verschweigen, da ein bisschen was dazutun, und fertig ist die Wahrheit.» Hennis Vater, Herbert Schöning, arbeitete vor dem Krieg als Uhrmachermeister in Monschau. Maria, seine Frau, blieb mit den vier Kindern Henni, Johanna, Matthias und Fried zurück, als ihr Mann in den Krieg eingezogen wurde. Er kehrte zwar körperlich unversehrt heim, doch ein Kriegstrauma hatte ein Zittern bei ihm zurückgelassen, so dass er als Uhrmacher nicht mehr arbeiten konnte. Aber nicht nur das, er entschloss sich, der Kirche zu dienen – der Pfarrer allerdings zahlte ihm keinen Pfennig. Die Familie musste von irgendetwas leben, Maria suchte sich Arbeit in einer Gastwirtschaft als Kellnerin. Henni, ein aufgewecktes Mädchen, erhielt die Empfehlung, die höhere Schule zu besuchen, was der Vater verweigerte. Und als die Mutter früh verstarb, trat sie in ihre Stapfen: Sie erzog die Geschwister, machte den Haushalt, arbeitet in der Gastwirtschaft – der Vater kümmerte sich um nichts, verbrachte derweil die Zeit in der Kirche. Schnelles Geld konnte man mit Kaffeeschmuggel verdienen – Kaffee aus dem benachbarten Belgien. Die furchtlose Henni stieg in das Geschäft ein, wagte sich sogar auf Pfade, die durch das gefährliche Moor über die Grenze führten. Das konnte nicht auf Dauer gut gehen. Sie wurde erwischt und man steckte sie 1951 in eine Besserungsanstalt, ihre Schwester wurde bei diesem letzten Coup erschossen. Die Brüder kaen in ein kirchlich geführtes Heim, weil der Vater meinte, dort seien sie besser aufgehoben. «Wie soll man ihr gerecht werden, wenn man eingestehen muss, dass es die eine Wahrheit über sie nicht gibt, nie gegeben hat? Auch in den Polizeiakten findet sie sich nicht, dort am wenigsten. Wenn man nur sagen könnte, womit alles angefangen hat. Wenn man sagen könnte: An dem Tag, da sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen! Aber so einfach ist das nicht.» Der Roman ist in zwei Zeitebenen geschrieben, die sich abwechseln. Der Prozess 1970 und die Geschichte der Familie Schöning, der längere Strang. Stück für Stück rollt sich Hennis Leben auf. Kriegstraumata – darüber wurde damals nicht gesprochen – wer körperlich unversehrt ist, der kann doch arbeiten. Hennis Vater gilt im Dorf als faul, insbesondere, weil er nur noch in der Kirche hockt, dem Pfarrer als Küster zur Hand geht. Henni schreibt die Kirche an: Der Pfarrei steht ein Küster zu, den der Pfarrer zahlen muss – was nie geschehen wird. Henni gilt als frech und aufsässig beim Pfarrer. Sie trägt Hosen! Wir erfahren authentisch geschrieben vom Leben in der Erziehungsanstalt der Nachkriegszeit – und wie Hennis Leben sich entwickelte. Die Brüder von Henni landen in einem kirchlichen Heim, dessen Erziehungsmethoden noch schlimmer sind. Die hier dargestellten Passagen sind ungeschönt. Damals hieß es Fürsorgeerziehung der Bundesrepublik Deutschland, inklusive Jugendamt. Die Zustände in den Heimen wurden von der APO angeprangert. Als erste Medienvertreterin beschrieb 1969 die Journalistin Ulrike Meinhof die Situation von Kindern und Jugendlichen in Heimen. In die Öffentlichkeit gebracht, bewegte das eine langsame Änderung, die sich bis Mitte der 80-er fortzog. Auch beschreibt Mechtild Borrmann sehr gut die Behördeninstanzen, die fast die gleiche Brutalität innehatten, wie die Kirchengewalt. Man darf nicht vergessen, dass nach dem 2. Weltkrieg die identischen Leute an den Schalthebeln saßen, wie unter dem NS-Regime: Richter, Staatsanwälte, Ärzte, hohe Beamte usw. Diese Personen entschieden in ihren obersten Gremien, wer als Nazi galt und wer nicht. Die Amerikaner machten den Fuchs zum Hüter des Gänsestalls. Natürlich rollten dort kaum Köpfe, denn sie sahen es so, dass man sich nichts vorzuwerfen hatte, in der NS-Zeit nur nach geltendem Recht gehandelt … Gerichte, Fürsorgeamt (heute Jugendamt), Ärzte, Kirche, alle hatten Zucht und Ordnung im Kopf, und sei es, diese mit brutalen Mitteln durchzusetzen. Der «Übeltäter» ist übel, muss gebrochen werden. Dieser Roman zeigt brutal die gesellschaftliche deutsche Wirklichkeit nach dem 2. Weltkrieg. Für die jüngere Generation ein Verständnis dafür, wie die APO (die sogenannten wilden 68-er) entstehen konnte, auch die Bader-Meinhof-Gruppe. Der Roman ist spannend, wirklichkeitsnah, historisch interessant. Eine Mischung aus Gerichtskrimi und Historischem, ein Noir-Krimi – absolute Empfehlung! Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich dem Schreiben von Kriminalromanen widmete, war sie u.a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Mit «Wer das Schweigen bricht» schrieb sie einen Bestseller, der mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde. Für den «Geiger» wurde Mechtild Borrmann als erste deutsche Autorin mit dem renommierten französischen Publikumspreis «Grand Prix des Lectrices» der Zeitschrift Elle ausgezeichnet. 2015 wurde sie mit «Die andere Hälfte der Hoffnung» für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.

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