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DasIgno

Posted on 21.10.2019

Im Frühjahr 2014 gelingt der PARTEI etwas überraschend der Einzug ins EU-Parlament. Martin Sonneborn, ehemaliger Chefredakteur der ›Titanic‹ und zuletzt u.a. im Ensemble der ›heute show‹, wechselt nach Brüssel (und Straßburg, wie wir lernen werden), wo er nicht nur auf freundlichen Empfang trifft. Auf der Hinterbank der Fraktionslosen, zwischen Ultrarechten und Ultrarechteren, verfolgt er ein herausforderndes Ziel: Wo er schon mal hier ist, kann er auch herausfinden, wie die EU eigentlich funktioniert. ›Herr Sonneborn geht nach Brüssel‹ – Untertitel ›Abenteuer im Europaparlament‹ – erschien 2019 bei Kiepenheuer & Witsch. Das Buch ist satirisch-autobiografisch verfasst und berichtet chronologisch auf 432 Seiten von ausgewählten Ereignissen der ersten fünf Jahre von Sonneborns Zeit als MdEP. Sonneborns Buch ist streitbar, wie auch Sonneborn selber streitbar ist. In einer Zeit, in der gerade die politische Rechte wieder fahnenschwenkend ins Rechtsextreme marschiert, darf man sicherlich die Frage diskutieren, ob eine Satirepartei der Europäischen Union zuträglich ist. Sonneborn gibt gerade zu Beginn seiner Amtszeit allen Grund für Kritik. Sein Abstimmungsverhalten – als Kritik an den Abstimmungsmarathons im EU-Parlament gedacht – ist diskutabel. Seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Amt – ursprünglich sollte der PARTEI-MdEP jeweils monatlich zurücktreten, um möglichst viele in den Genuss der Parlamentariervorzüge zu bringen – ebenso. Sein scheinbar lässiges Verhalten gegenüber den ultrarechten Vertretern auf den Nachbarplätzen – Udo Voigt, der NPD-Mann, dient als Running Gag – im Zeitgeist problematisch. Trotzdem hat ›Herr Sonneborn geht nach Brüssel‹ auch eine andere Seite. Es zeigt einerseits eine Entwicklung, denn Sonneborn wächst auf seine Weise durchaus in die Verantwortung seines Amtes. Stehen wichtige und vor allem enge Abstimmungen an, weicht er von seinem Abstimmungsverhalten ab. Daneben verteidigt er sich erfolgreich gegen die Bundestagsverwaltung, als die PARTEI den Irrsinn der deutschen Parteienfinanzierung, der eigentlich nur den großen bestehenden Parteien nutzt, an seine Grenzen führt. Sonneborn auf plumpe Satire zu reduzieren, würde ihm nicht gerecht. ›Herr Sonneborn geht nach Brüssel‹ liefert tiefe Einblicke in den Parlamentsbetrieb auf EU-Ebene. An vielen Stellen ist das frustrierend, nicht nur weil dieser erwartbar bürokratisch ist. An vielen Stellen fand ich Sonneborn frustrierend, vor allem weil sein Humor – wider jeder Kritik, von der es genug gab – zahlreiche rassistische Elemente nutzt und er vielen Dingen, die nicht in der ersten Reihe stattfinden, mit einer Gleichgültigkeit begegnet, die schon an Realitätsferne grenzt. Trotzdem ist das Buch lehrreich. Es offenbart eine Sicht in den EU-Betrieb, die es in der konzentrierten Form in unterhaltsam bislang wohl noch nicht gab. Und auf eine sehr merkwürdige Weise trägt es auch eine tiefe Verbundenheit zum ursprünglichen Friedensprojekt EU in sich. Sonneborn macht keinen Hehl daraus, dass er die EU auf dem falschen Weg sieht, trotzdem aber daran glaubt, dass es einen besseren Weg für sie gäbe und der zu wichtig ist, um die EU selber auflösen zu wollen. Insofern ist ›Herr Sonneborn geht nach Brüssel‹ auch ein Plädoyer für die EU. Schlussendlich würde ich das Buch ohne Einschränkung empfehlen – wenn da nicht diese ständigen Rassismen wären. Die stoßen mir leider in 2019 nun doch zu sehr auf, als dass ich sie unter einem Deckmantel der Satire noch dulden würde. Weil das Buch aber wirklich lehrreich ist, bleibe ich bei einer recht hohen Bewertung. Es ist kompliziert.

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