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DasIgno

Posted on 29.5.2019

Was wurde eigentlich aus dem Fernweh der Jugend? Damals, als man die entlegensten Orte der Welt bereiste und es überall besser als zu Hause war. War es das wirklich? Und wie ist es heute? Sollte man überhaupt noch reisen, weil es doch eigentlich überall schlimmer als zu Hause ist? ›Wunderbare Jahre‹ – Untertitel ›Als wir noch die Welt bereisten‹ – entstammt dem Jahr 2016 und ist bei dtv erschienen. Auf 192 Seiten stellt Sibylle Berg mehr oder weniger kurzen Reiseberichten soziale und politische Verhältnisse in den jeweiligen Ländern gegenüber. Wir begleiten Frau Berg auf zahlreichen Reisen, die sie seit Beginn ihres Erwachsenenalters in alle Welt geführt haben. Das Buch ist ein Potpourri teils bewegender, teils schräger Reiseberichte von Südafrika über Israel und den brasilianischen Regenwald bis nach Wien und Cannes. Die ersten Filmfestspiele des Jahrtausends sind dabei, ebenso die Hochzeit von William und Kate. Die Berichte umfassen teils kurze Episoden teils grobe Gesamtzusammenfassungen, in jedem Fall sind sie liebevoll, mal witzig, mal bedrückend verfasst. Doch es gibt da noch die andere Seite. Denn nach jedem Reisebericht folgt das Postskriptum – oder gleich mehrere davon. Und die haben es in sich. Denn was gerade noch nach Geheimtipp, Urlaubsparadies oder ähnlichem aussah, hat selbstverständlich auch Schattenseiten. Ausgewählte lässt Frau Berg jedem Bericht folgen. Seien es Terroranschläge, staatliche Repression, organisierte Kriminalität oder ein Erklärungsversuch, was da eigentlich im Nahen Osten los ist, was wir im Westen nicht verstehen. So bekommt jeder Bericht seinen ganz eigenen, brutalen Gegensatz. Liebevoll illustriert wird das Ganze von Isabel Kreitz. ›Wunderbare Jahre‹ ist ein Buch, das in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken anregt. Selbstverständlich über den Zustand der Welt an sich und unseren Umgang damit. Der Cocktail an der Bar am lauen Sommerabend könnte etwas sauer schmecken, wenn man sich bewusst macht, dass vor den Mauern der Touristenanlagen Menschen einfach so auf der Straße erstochen werden. Samba ist schön und gut, doch gleichzeitig begeht das Land ein unfassbares und umfassendes Umweltverbrechen am Regenwald. Es lohnt sich, sich Gedanken über das Urlaubsziel zu machen. Man muss nicht immer fern bleiben, man sollte sich aber bewusst sein, dass die Touristenwelt nicht immer das echte Leben der Bürger des Urlaubslandes spiegelt – manchmal zeigt sie eher den krassen Gegensatz. So ist ›Wunderbare Jahre‹ vor allem schonungslos. Es erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, das wäre auch kaum möglich. Aber es schärft den Blick. Und dafür liebe ich Frau Berg sehr.

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