"Ein monströser Ruf der Einsamkeit" – Jennifer Lucy Allan über ihre Kulturgeschichte des Nebelhorns

Wirklich gute Sachbücher dienen nicht nur der Weitergabe von Informationen und Zusammenhängen. In ihnen vermittelt sich im besten Fall auch die Leidenschaft, manchmal sogar Besessenheit, die dazu führte, dass die Autorin überhaupt damit begann, sich gerade mit diesem Thema zu beschäftigen.

Noch eindringlicher wird es, wenn der Text ebenfalls eine literarische Qualität besitzt. Wenn er imstande ist zu fesseln. Wenn man beim Lesen der nächsten Erkenntnis entgegenfiebert und beginnt, die Besessenheit der Autorin zu teilen. Solche Momente stellen sich bereits während der Lektüre der ersten Seiten von Jennifer Lucy Allans +Das Lied des Nebelhorns (natürlich erschienen bei Mare) ein. Die Musikjournalistin wirft sich mit voller Leidenschaft in diese spannende Kulturgeschichte, stochert unermüdlich im Nebel, deckt auf, reist in die Vergangenheit und in den Sturm. Ergründet menschliche Schicksale, Technik, Gesellschaftspolitik, Lyrik, Musik ... ein großes Werk.

yourbook.shop-Chefredakteurin Yvonne Franke hat mit Jennifer Lucy Allan über die Ursprünge und die Zukunft dieses besonderen Rechercheabenteuers gesprochen.

Yvonne Franke: Während man ihre Kulturgeschichte des Nebelhorns liest, breitet sich ein riesiges, dichtes Netz von Geschichten vor einem aus, die alle mit dem Thema zu tun haben und sich in die verschiedensten Lebensbereiche erstrecken. Das ist faszinierend. Aber was hat Sie am Nebelhorn fasziniert, bevor Sie all diese Geschichten kannten? Was war der Auslöser für Ihren Entdeckerdrang?

Jennifer Lucy Allan: Mein Hintergrund liegt im Musikjournalismus. Ich habe mich darauf spezialisiert, über experimentelle Musik, Avantgarde, Underground, und alle Arten von Musik zu schreiben, die ich als „Nicht-Mainstream“ bezeichnen würde. Der Klang an sich fasziniert mich und auch die Art und Weise, wie wir ihn erleben, sei es auf einer Platte oder in der unmittelbaren Umgebung. Der Auslöser für mein Interesse speziell am Nebelhorn war zweierlei.

Zuerst habe ich ein Album rezensiert und dabei ein Waldhorn mit einem Nebelhorn verglichen – dann wollte ich diesen Vergleich vorsichtshalber überprüfen und bin in ein Wurmloch von Nebelhornaufnahmen und -videos geraten. Ich konnte keine lückenlose Geschichte darüber finden, wie die Idee und schließlich der Klang des Nebelhorns entstanden war (damals gab es online weniger darüber zu finden), also fing ich an, mich in Archive zu begeben und weniger bekannte Bücher auszugraben.

Dann hörte das Magazin The Wire, für das ich arbeitete, von einem Nebelhorn-Konzert im Nordosten Englands und schickte mich los, um einen Artikel zu schreiben. Die enorme, zitternde Stimme dieses Nebelhorns aus nächster Nähe von den Klippen zu hören, im wehmütigen Austausch mit Bootshörnern und einer Blaskapelle, eröffnete eine ganze Reihe neuer Fragen und Verbindungen. Dieses Konzert – Foghorn Requiem(2013) – wurde zum Auftakt des Buches. So hat alles angefangen.

Glauben Sie, dass Sie als Musikjournalistin im Vorteil waren, dieses Thema zu untersuchen? Fanden Sie den Zugang leicht? Haben Sie eine besondere Sichtweise?

Meine Erfahrung als Musikjournalistin hat mich gelehrt, auf nuancierte und klare Weise über Klänge zu schreiben. Aber sie hat auch beeinflusst, welche Art von Fragen ich während der Recherche gestellt habe.

Mir war sofort klar, dass dieser monströse Klang, der gleichzeitig ein Symbol für Leben und Tod sein konnte, etwas wirklich Faszinierendes hatte. Dass er ein enormer Ruf der Einsamkeit war, aber auch Sicherheit und Zivilisation repräsentierte. Eine Verbindung zum Land, zu Heimat und Familie – wenn man draußen auf See war.

Ich denke, mein Fokus auf Musik und Klang, die Umwelt, Menschen und Orte hat dazu geführt, dass ich mich mehr mit größeren Fragen darüber beschäftigt habe, wie Klang in unserem Leben funktioniert. Sowohl in Bezug auf unsere Erinnerungen und Verbindungen zur Welt, als auch auf einer alltäglichen Ebene.

Als ich darüber nachdachte, wie ich alltägliche Geräusche hörte, wurde mir klar, dass wir viele Dinge nicht wahrnehmen, da wir vertraute Geräusche ganz selbstverständlich herausfiltern. Die Musik, über die ich schreibe, lässt sich oft nicht leicht in Kategorien einordnen; Ich interessiere mich für das Neue, für die Avantgarde oder das Schwierige, und deshalb wollte ich mit dem Buch auch Geräusch und Musik wieder verbinden – das sind keine getrennten Dinge, und wo man die Grenze zieht (wenn man denn eine zieht) liegt bei einem selbst. Diese Linie zu verwischen, Musik in alltäglichen Dingen zu hören oder herauszufinden, woraus Musik besteht, kann unsere Welt in ein ganz neues, magisches Licht tauchen.

Sie schreiben über den Einfluss von Leserbriefen in Ihrer ersten Recherchephase. Haben sich nach der Veröffentlichung Ihres Buchs noch weitere Erkenntnisse angesammelt, von denen Sie wünschten, Sie hätten früher davon erfahren?

Ja, ich bekomme immer noch viele Nachrichten von Menschen, die das Gefühl haben, ihre Erinnerungen teilen zu wollen. Ich würde gerne eine zusätzliche Broschüre mit Fragmenten und Briefen zusammenstellen: mit Geschichten und Erinnerungen von Menschen und weiteren Anekdoten, die ich entdeckt habe, nachdem das Buch fertig war. Und auch mit meinen Erfahrungen aus der Zeit, als ich herumreiste, um über das Buch zu sprechen.

Zur Betrachtung des Nebelhorns gehört auch der Blick darauf, wie es war, bevor es erfunden wurde. So sammeln sich auch die Geschichten über unglückliche Schicksale in Ihrem Buch. Gibt es eine, die Sie besonders berührt hat?

In den Logbüchern der Leuchttürme sind viele Todesfälle verzeichnet. Oft sind die berührendsten Geschichten aber die der Überlebenden. In diesen Aufzeichnungen las ich von Wärtern, die Schiffsunglücke beobachteten und nicht helfen durften, weil sie den Turm bewachen mussten.

Das, an das ich mich am deutlichsten erinnere, zum Teil sicher, weil es bei aller Traurigkeit so seltsam klingt, handelte von einer ganzen Herde Kühe, die bei einem Schiffbruch ertrank – nur ein oder zwei schafften es, an Land zu schwimmen. Das war ein massiver Verlust, aber es hat mir auch gezeigt, wie eng unser Leben an Land mit dem Leben auf See verbunden ist – wir erkennen es nur nicht immer an.

Auch die Geschichte des Nebelhorns selbst war teilweise im Nebel verborgen. Gab es Momente, in denen Sie dachten: Vielleicht wird das nur ein kurzer Text. Vielleicht werde ich nie herausfinden, wie das alles wirklich zusammenhängt?

Haha! Gute Frage. Irgendwann während des Schreibens wurde mir ziemlich schnell klar, dass dieses Thema ironischerweise ziemlich nebulös war. Ich ließ mich darauf ein und es hat mir geholfen, erstmal nicht zu versuchen, eine Antwort auf die Frage geben zu wollen, welche Bedeutung das Nebelhorn hat. Es bedeutet vielen Menschen viele Dinge!

Wir sind alle unterschiedliche Zuhörer, weil wir unterschiedliche Menschen sind.In uns allen sind individuelle Erinnerungen und Verbindungen versammelt – sensorische Bibliographien. Diese Erkenntnis gab mir ein euphorischeres Gefühl über die Möglichkeiten des Klangs in der Welt, als es jede einzelne endgültige Erklärung jemals hätte tun können. Nachdem ich das festgestellt hatte, fing ich an, den nebulösen Teil dieser Unternehmung wirklich zu genießen. Ich wollte auch nie ein langes Buch schreiben. Ich wollte, dass es einem kurzen Ton gleicht – dem des Nebelhorns. Niemand braucht ein 700-seitiges Epos über Nebelhörner.

Wann immer aber der Nebel sich lichtet, führt die Beschäftigung mit dem Thema einen in die Leben faszinierender Persönlichkeiten. Es gibt zahlreiche Stellen im Buch, an denen man schon als Leserin Lust bekommt, die Beschäftigung mit diesen Lebensläufen noch zu vertiefen. Ist es Ihnen leichtgefallen, dem roten Faden zu folgen und sich nicht in diesen Verzweigungen zu verlieren?

Als Journalistin war ich oft gezwungen Nebensächlichkeiten zu ignorieren, um mich auf eine knappe Zusammenfassung der Ereignisse zu konzentrieren. Eine der größten Freuden beim Schreiben eines Buches bestand für mich darin, all diesen Tangenten zu folgen, dem Flüchtigen und Esoterischen nachzujagen oder Antworten auf Fragen zu finden, auf die es keine offensichtlichen Antworten gab.

Wäre Leuchtturmwärterin ein Traumberuf für Sie gewesen – damals, bevor das meiste automatisiert wurde?

Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich glaube nicht, dass ich auf einem Feuerschiff oder auch einer festen Station sein möchte. Diese Posten waren sehr beengt und es gab kaum Privatsphäre. Außerdem war es nicht sehr luxuriös – nicht einmal frische Milch für den Tee! Am ehesten hätte ich mir eine große, geschäftige Mehrfamilienstation wie The Lizard in Cornwall vorstellen können. Dort lebte man in einem kleinen Dorf mit anderen Wärtern und ihren Familien zusammen – in einem Haus mit einer fantastischen Aussicht.

Die Frage bleibt allerdings theoretisch. Da Frauen in Großbritannien nie selbst Leuchtturmwärterin sein durften, hätte ich nur danach streben können, die Frau eines Leuchtturmwärters zu werden, was mich nicht so begeistert.

Haben Sie dem Abschluss Ihrer Arbeit am Buch mit Freude oder Wehmut entgegengesehen?

Ich habe das Gefühl, dass die "Fertigstellung" ein etwas willkürlicher Punkt war, der eher durch die Abgabefrist als durch mein Interesse an diesem Thema definiert wurde. An einer Stelle musste ich einen Schlussstrich ziehen, weil es an der Zeit war, aber meine Faszination für Nebelhörner, mein Nachdenken über den Klang und seine Ursprünge hat nicht aufgehört. Ich habe gelernt, dass, wenn man ein Buch schreibt, es nach der Veröffentlichung weiterwächst, wenn die Leute es lesen und wenn man mit ihnen darüber spricht. Es beginnt dann in der Welt zu existieren, und durch die Gespräche bewegt sich diese Existenz weit über die Grenzen seiner Seiten und den Tag seiner Veröffentlichung hinaus.

Gibt es ein weiteres Thema, das sie derart fasziniert, dass Sie Lust hätten erneute Forschungsreisen zu unternehmen und diesen Rechercheaufwand zu betreiben?

Ich habe vor einiger Zeit begonnen, mit Ton und Keramik zu arbeiten. Es war eine totale Offenbarung. Ich erinnere mich, dass mein Kunstunterricht an der High School mit extrem geringen Mitteln ausgestattet war.Deshalb kam ich auch erst als Erwachsene mit Ton als Arbeitsmaterial in Berührung.

Ich blieb dran und als ich besser wurde, in dem, was ich tat, begann ich mich nach mehr Sachbüchern zu diesem Thema zu sehnen. Es gibt einige Bücher, aber eben nicht genau das, das ich lesen wollte. Mir fehlte ein Buch, das die weitreichend bedeutende aber auch die alltägliche Geschichte dieses Materials erzählt. Eine Geschichte, die meine Hände und diesen Schlammklumpen mit den Anfängen der Menschheit verbindet.

Ich begann mit der Recherche, noch bevor ich das Nebelhorn-Buch fertig hatte. Ich lernte meine Hauptfiguren kennen und entdeckte Verbindungen, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren.

Im Moment bin ich ganz in diese Arbeit eingetaucht und absolut begeistert. Wie bei den Nebelhörnern gibt es einen roten Faden, der sehr weit in die Vergangenheit führt. Und ich hoffe, dass auch dieses Buch weit über die Grenzen seiner Seiten hinauswachsen wird.

"Ein monströser Ruf der Einsamkeit" – Jennifer Lucy Allan über ihre Kulturgeschichte des Nebelhorns

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