Die Übersetzerin und ihre Autorin: Mein Weg zu Zadie Smith

von Tanja Handels

Kurz nach der Jahrtausendwende war es, im Januar 2000: Da erschien +White Teeth (dt.+Zähne zeigen ), der Debütroman einer jungen Autorin mit britischen und jamaikanischen Wurzeln, der zunächst in Großbritannien und später dann weltweit zum Bestseller wurde und seine Verfasserin, die damals 24jährige Zadie Smith, buchstäblich über Nacht berühmt machte. Auch ich, Anglistik-Absolventin und gerade im Begriff, ein glückloses Promotionsvorhaben aufzugeben und erste Schritte in Richtung Literaturbranche zu unternehmen, las damals dieses Buch und war restlos begeistert und beeindruckt: von dem Panorama eines bunten, diversen, lebendigen und überraschend friedlichen Londoner Nordwestens, von den ungeheuer überzeugenden und auf allen Ebenen anrührenden Figuren, ihren pointierten Dialogen, dem lakonisch-ironischen Stil, der Intelligenz und Leichtigkeit des ganzen Textes – und von dieser überaus erstaunlichen Erzählstimme, die da zu mir sprach, unfassbar klug und intellektuell, dabei voller Wärme und Humor und von einem hellwachen, agilen und gelenkigen Geist, wie ich ihn bis dahin selten erlebt hatte. Wie, dachte ich voller Bewunderung, kann man nur so umwerfend schreiben, so modern, temporeich und heutig und dabei mit einer solchen überzeitlichen Tiefe?

Kurzum: Ich war hin und weg, ernannte Zadie Smith sofort zu einer meiner Lieblingsautorinnen und las auch ihre nächsten beiden Romane, +The Autograph Man (2002, dt.+Der Autogrammhändler ) und +On Beauty (2005, dt.+Von der Schönheit ), direkt nach Erscheinen – und natürlich im Original, ich war ja Anglistik-Absolventin, heiß verliebt in die englische Sprache und selbst erst noch dabei, das Literaturübersetzen als Beruf für mich zu entdecken. 2006 allerdings, als +Von der Schönheit in den deutschen Buchhandlungen lag und ich schon selbst einige Bücher übersetzt hatte, vertiefte ich mich hinein, bewunderte den Kollegen Marcus Ingendaay für seine Leistung und dachte mir: „Wie wunderbar es sein muss, diese tolle Autorin übersetzen zu dürfen!“ Ein Traum für mich – fern und unerreichbar, schien mir damals, denn ich stand ja noch ganz am Anfang, vor allem aber war Zadie Smith übersetzerisch schon vergeben, und das zu respektieren ist Ehrensache unter Literaturübersetzenden. Aber träumen darf man natürlich trotzdem.

In den folgenden Jahren wurde es stiller um den internationalen Literaturstar, zu dem Zadie Smith längst geworden war: Essays und Kurzgeschichten für verschiedene Medien schrieb sie weiterhin, konzentrierte sich aber vor allem auf ihre Familie und das Unterrichten an der New York University. Ich meinerseits konzentrierte mich aufs Übersetzen, fasste immer mehr Fuß im Literaturbetrieb und knüpfte neue Verlagskontakte. Und dann – inzwischen war es Juni 2010 – kam bei einer Tagung zum Thema Übersetzungskritik im Münchner Literaturhaus plötzlich einer dieser neueren Kontakte, Lektorin bei Kiepenheuer & Witsch, dem deutschen Verlag, der Zadie Smith seit +Von der Schönheit publiziert, auf mich zu und sprach einen Satz, den ich wohl nie mehr vergessen werde: „Ich hätte da was für dich – es ist ziemlich undankbar, aber es ist von Zadie Smith.“ Hat sie gerade ‚Zadie Smith‘ gesagt?, dachte ich. Wie undankbar kann das denn sein?!

Wie sich herausstellte, handelte es sich um den ersten Essay-Band +Changing My Mind , und er war natürlich alles andere als undankbar; nur einfach sehr, sehr rechercheintensiv, weswegen weder Marcus Ingendaay noch das Duo Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, die die ersten beiden Romane ins Deutsche gebracht haben, das Projekt in ihrem Zeitplan unterbringen konnten – einer der wenigen legitimen Gründe, die gelegentlich zu einem Übersetzungswechsel führen können. Die Stelle war also sozusagen temporär vakant, und so durfte nun ich mich an dem Buch beweisen – und befand mich auf einmal mitten in meinem wahrgewordenen, heimlichen Übersetzerinnentraum. Ich übersetzte Zadie Smith und konnte mich daran versuchen, für ihre sehr spezielle Stimme, die in den Essays noch viel unmittelbarer zu ihrem Publikum spricht, ein Äquivalent im Deutschen zu finden, den Ton, den ich selbst beim Lesen wahrnahm und der mich seit zehn Jahren begeisterte, mit den Mitteln meiner Sprache nachzubilden. Eine Aufgabe, die mir reichlich Respekt abrang – mir aber letztlich doch vergleichsweise leicht fiel.

Handels Smith Übersetzungen — Zadie Smith übersetzt von Tanja Handels, alle Titel erschienen bei Kiepenheuer & Witsch

Harte Arbeit ist es immer, aber es gibt einfach Texte, die sind so großartig geschrieben und handwerklich präzise, dass sie den Eindruck vermitteln, ihre Übersetzung gewissermaßen schon in sich zu tragen. Ich brauche sie dann „nur“ noch zu heben. Bei Zadie Smith war und ist das so – nicht umsonst hatten mich ihre Romane von Anfang an in den Bann gezogen. Und bei den Essays, die teilweise fast Kurzgeschichten sind, so wie ihre Kurzgeschichten – versammelt im Band +Grand Union (2019 im Original und 2021 unter demselben Titel auf Deutsch erschienen) – oft fast Essays sind (die Gattungsgrenzen verschwimmen), empfand ich es zu meiner Überraschung noch stärker so: Zadie Smith ist eine wahre Meisterin der kurzen Form, auf wenigen Seiten kann man ihrem wachen, neugierigen Geist bei der Arbeit zusehen und erleben, wie er die kühnsten Volten schlägt, die unwahrscheinlichsten und unterschiedlichsten Themenfelder zusammenliest und daraus ebenso überzeugende wie intellektuell bereichernde Schlussfolgerungen zieht.

Mein Lieblingsbeispiel? Der Essay „Begegnung mit Justin Bieber“ aus dem zweiten Essay-Band +Feel Free (2018, dt.+Freiheiten ), in dem die Autorin, ausgehend von einer zufällig bemerkten Namensgleichheit zwischen dem Popstar Justin Bieber und dem jüdischen Philosophen Martin Buber („Bieber und Buber sind unterschiedliche Schreibweisen desselben deutschen Nachnamens. Wie könnte ich mir anmaßen, solche Hinweise des Universums einfach zu ignorieren?“, so erläutert sie es selbst in einer Fußnote), ein berühmtes Werk Bubers, +Ich und Du , auf Justin Bieber anwendet und auf die Meet-&-Greet-Veranstaltungen für seine Fans. Normale Sterbliche registrieren solche Zufallsbeobachtungen vielleicht, vergessen sie dann aber bald wieder; Zadie Smith denkt weiter und baut daraus ein in sich komplett schlüssiges, stabiles Gedankengebäude. Das ist für die Leserin ein großes Vergnügen und für die Übersetzerin erst recht. Die „undankbaren“ Essays erwiesen sich also letztlich als reine Freude.

Und bei den Essays blieb es nicht: Den Verlag überzeugte der Ton, den ich gefunden hatte, und so wurde Zadie Smith zu meiner Autorin und ich zu ihrer Stammübersetzerin. Zwei Romane, zwei lange Essaysammlungen und eine kürzere (die sogenannten „Corona-Essays“ +Intimations: Six Essays erschienen im Sommer 2020, im ersten Jahr der Pandemie, und wurden im Herbst desselben Jahres unter dem Titel +Betrachtungen als deutschsprachiges E-Book veröffentlicht), einen Kurzroman (oder eine Langerzählung, je nachdem, wie man es betrachtet) und den erwähnten Kurzgeschichtenband habe ich bislang von ihr übersetzt und bin noch immer begeistert und fasziniert davon, wie sie sich in ihren Büchern beständig neue Ideen und Themen erschließt und diese weiterentwickelt.

Viele Grundmotive bleiben gleich: Immer geht es um Identität und Diversität, um Fragen rund um die Themenfelder Race, Class und Gender, um Figuren, die sich und einander suchen und keineswegs immer finden; Dialekte und Soziolekte, Patois und Standard-Englisch durchziehen ihre Romane, Jamaika, die USA und dort vor allem New York, verschiedene afrikanische Länder und immer wieder Großbritannien, vor allem der Nordwesten Londons, sind wiederkehrende Motive und Schauplätze. Auf formaler Ebene aber und hinsichtlich der Erzählhaltung erfindet Zadie Smith sich und ihre Texte immer wieder neu. So folgt auf das in bester Tradition der Victorian Novel stehende und stark von E. M. Forster beeinflusste +On Beauty nach achtjähriger Roman-Abstinenz das stilistisch und formal gewagte, vom angelsächsischen Modernismus geprägte +NW (dt. +London NW ) und darauf wiederum +Swing Time (dt. ebenfalls +Swing Time ) , ihr bisher letzter Roman von 2016, in dem sie erstmals überhaupt mit einer Ich-Erzählerin arbeitet (dazu passt der Essay „Das Ich, das ich nicht bin“, der sich ebenfalls in +Freiheiten findet).

Und so reichen ihre Erzählungen von der morgendlichen Reflexion einer Mutter über das Arbeitsblatt, das ihre Tochter aus der Grundschule mit nach Hause bringt, über die von Anaïs Nin inspirierten Erinnerungen einer Frau in der Lebensmitte an ihre erotischen Eskapaden während des Studiums bis hin zu science-fiction-haften Dystopien, die deutlich an die USA unter Donald Trump gemahnen. Auch ein Theaterstück, +The Wife of Willesden (in Blankversen und inspiriert von "The Wife of Bath" aus Geoffrey Chaucers +Die Canterbury-Erzählungen ), und, zusammen mit ihrem Mann, dem nordirischen Lyriker Nick Laird, das Bilderbuch +Weirdo hat sie vergangenes Jahr verfasst – bisher sind beide noch unübersetzt.

Und eigentlich kann es auch nur eine Frage der Zeit sein, bis ihr nächster Roman offiziell angekündigt wird – schon seit Längerem ist zu hören, sie sitze an einem historischen Roman über den Londoner Nordwesten. Ein neues Genre, wieder einmal, mit dem Zadie Smith sich neu erfinden und sich doch gleichzeitig treu bleiben wird: in ihren Themen, vor allem aber in ihrer Neu-Gier auf alles und jedes, wie entlegen es auch sein mag. In einem Interview mit der Brent & Kilburn Times, der Lokalzeitung des Londoner Viertels, aus dem sie stammt und das bis heute, trotz ihres zweiten Lebensmittelpunkts New York, ihr Zuhause ist, schließt sie mit folgendem Rat an Menschen, die selbst einmal schreiben wollen: „Interessiert euch für alles. Erlaubt euch bloß keine Grenzen. Mir hat meine Unersättlichkeit eine Menge gebracht. Das ist eine günstige Eigenschaft, wenn man schreibt.“

Diese unersättliche Neugier zeigte sich übrigens auch in meiner ersten persönlichen Begegnung mit „meiner“ Autorin 2013, als sie nach dem Erscheinen von +London NW bei der LitCologne las. Ich war natürlich fürchterlich aufgeregt – ein bisschen „star-struck“, wie Zadie Smith es formulieren würde –, hatte aber dennoch unzählige Fragen an sie im Kopf. Aber kaum war ich ihr vorgestellt worden, bestürmte sie mich schon ihrerseits mit Fragen, wollte alles über das Übersetzen wissen, über meine Arbeitsabläufe, den Berufsalltag, den Umgang mit ganz spezifischen Problemen aus ihren Büchern ... Da dauerte es ein Weilchen, bis ich selbst auch mal die eine oder andere Frage an sie loswerden konnte. Ein Muster, dem seither alle Begegnungen mit ihr folgen – und eine amüsante Demonstration eines neugierigen Menschen in Aktion. Ist ihr Wissensdurst dann einmal gestillt, erzählt sie fesselnd und kurzweilig von all den vielen anderen Dingen, die sie aktuell interessieren. Und dann hört man sie ganz nah und direkt, die Stimme aus ihren Romanen, vor allem aber die Stimme aus ihren Essays, die die unwahrscheinlichsten Themen zu neuen, buchstäblich originellen Überlegungen verknüpft. Eine Grenzenlosigkeit und Freiheit im Denken wie die ihre ist immer, aber gerade auch in der heutigen Zeit, ein rares und kostbares Gut. Möge Zadie Smith ihre Neugier weiter kultivieren und sich und ihre Texte immer wieder neu erfinden! Mir jedenfalls hat die intensive Auseinandersetzung, die praktische Lektüre ihrer Bücher – denn letzten Endes ist Übersetzen nichts anderes als praktisches Lesen – Welten und weite Horizonte eröffnet, die ich nicht mehr missen möchte.

Die Übersetzerin und ihre Autorin: Mein Weg zu Zadie Smith

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