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Simone Scamander

Posted on 31.1.2020

"Der Fänger im Roggen" erzählt die Geschichte des siebzehnjährigen Holden Caulfield, der zu Beginn seiner Geschichte zum dritten Mal von einem Internat fliegt. Seine Noten waren schlecht – mal wieder –, sein Einsatz ließ zu wünschen übrig – mal wieder –, und selbst an den kleinsten Aufgaben scheitert er. Immer und immer wieder. Dabei sind es weder mangelnde Intelligenz noch fehlende Verantwortung, die Holden nun schon zum dritten Mal durchfallen lassen. Im Gegenteil: Holden hat einen feinen Beschützerinstinkt und ist durchaus ein gescheiter junger Mann. Was ihn in die Knie zwingt, ist seine Umgebung, die Gesellschaft, alles um ihn herum. Nach dem Rausschmiss fasst Holden den Entschluss, sich ein paar Tage auf eigene Faust durch New York zu schlagen, ehe er zu seinem Elternhaus zurückkehrt. Er steckt in einer Krise, die es ihm unmöglich macht, sich durchzuringen. Er hasst die Schule mit ihren Erwartungen und ihrem Leistungsdruck, er hasst die affektierten und aufgesetzten Menschen mit ihren falschen Worten und ihrem künstlichen Lachen, und er hasst die verlogene Gesellschaft mit ihren perversen Erwachsenen. Sein Hass äußert sich allerdings selten in Wut oder Gewalt. Vielmehr entwickelt er aus seiner Abneigung die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit und Verständnis, die im direkten Bezug zu seiner geliebten kleinen Schwester Phoebe mit dem Wunsch einhergeht, sie vor all dem zu beschützen. Holden mag nicht dem entsprechen, was seine Eltern, seine Lehrer und seine Mitschüler von ihm erwarten, aber ein schlechter Mensch ist er nicht. Ihm fehlen feste Bezüge, Halt und ein bisschen Geborgenheit, denn seinen Platz im Leben hat Holden schlichtweg noch nicht gefunden. Na, kommt euch das alles nicht ziemlich bekannt vor? In meinen Augen ist Holden Caulfields Geschichte ein absolut zeitloser Coming-of-Age-Roman. Obwohl das Buch erstmals im Jahre 1951 erschien und es auch in den 1950er Jahren spielt, überkam mich nie das Gefühl, eine "alte" Geschichte zu lesen. Bis auf ein paar etwas ungewohnte Ausdrucksweisen, die sich in der neuen Übersetzung von Eike Schönfeld drastisch reduziert haben sollten, hätte Holden Caulfield mit seiner Einstellung und Denkweise auch in unserer Zeit leben können. Seine Sorgen und Probleme sind und bleiben aktuell und machen es leicht, sich mit ihm zu identifizieren und mit ihm durch die Seiten seines Lebens zu leiden. Mich hat "Der Fänger im Roggen" absolut abholen können und mich, den wirklich hohen Erwartungen zum Trotz, nicht enttäuscht. J. D. Salinger hat mit seinem Roman einen eindrucksvollen Blick in den Kopf eines jungen Mannes hinterlassen, mit dem sich auch heute noch viele Leser werden identifizieren können. Mir tut es fast schon ein wenig leid, dass "Der Fänger im Roggen" als Klassiker betrachtet wird und im gleichen Atemzug den unattraktiven "Schullektüre"-Stempel aufgedrückt bekommt, denn Holden Caulfield und seine völlig ungebundenen drei Tage in New York sind lesenswert und aufschlussreich. Ich stelle meine Ausgabe mit einem ehrlichen, wenn auch etwas traurigen Lächeln zurück ins Regal … und bin mir sicher, dass Holden und ich uns in ein paar Jahren noch einmal begegnen werden. Am meisten halte ich davon, wenn man nach einem Buch ganz erledigt ist und sich wünscht, daß man mit dem Autor, der es geschrieben hat, nah befreundet wäre und daß man ihn antelefonieren könnte, wenn man dazu Lust hätte. (S. 17)

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