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Buchdoktor

Posted on 30.6.2023

Blandine Watkins lebt im „Affordable Housing Komplex La Lapinière“ in C4, die junge Mutter Hope, die den ganzen Tag noch mit niemand gesprochen hat, in C8 und Joan Kowalski, die beruflich Kommentare auf Trauerwebseiten moderiert, in C2. Ob ein A4-Blatt ausreichen würde, um die Beziehungen zwischen den Wohnschachteln zu notieren, fragte ich mich zu Beginn des Romans. Es reichte aus, als ich der Geschichte folgte, die von einem unerhörten Ereignis wie ein Countdown rückwärts in die Vergangenheit der Bewohner erzählt wird. Blandine war als 17-Jährige nach einem Leben als Pflegekind in den Appartment-Komplex gezogen, als Jack, Todd und Malik eine MitbewohnerIN suchten, in der Annahme, so leichter einen Mietvertag zu erhalten. Ihre Absprache mit dem Jugendamt lautete, dass sie ein weiteres Jahr finanziell unterstützt würden, wenn sie an einem Coaching für junge Sozialwaisen teilnehmen würden. Blandine, mit Abstand die sonderbarste Bewohnerin, interessiert sich für Hildegard von Bingen und Mystikerinnen im Allgemeinen und ahnt, dass sie nicht nur eine soziale Störung hat, sondern weitere psychiatrische Diagnosen. Als sie im Waschsalon Joan trifft, die auf sie uralt wirkt, illustriert die Begegnung, dass wohl kaum ein Bewohner des „Kaninchenstalls“ in der Lage ist, Kontakt zu seinen Nachbarn aufzunehmen. Wahr ist, was im Internet steht, und Moderatoren von Video-Tutorials werden zu Bezugspersonen. Vacca Vale in Idahos Rustbelt ist geprägt vom wirtschaftlichen Niedergang nach dem Bankrott der Automobilfabrik Zorn. Bis auf Gastronomie, Schule und Krankenhaus scheint es keine normalen Arbeitsstellen mehr zu geben, von deren Lohn jemand ohne zusätzliche staatliche Stütze leben kann. Der Housing-Komplex war als Wohltat eines Mäzens geplant, der vermutlich nicht auf die Idee kam, dass Arbeitnehmer, die gerechte Löhne erhalten, keine Almosen benötigen. Neben den vier Jugendlichen, Joan und Hope treten weitere Personen auf, deren Schicksale für drängende soziale Probleme stehen, an denen die Industriestaaten bisher kläglich scheiterten. Von Drogensucht, Umweltschäden, Sozialwaisen, Einsamkeit, dem Internet als Realitätsersatz und dass man sich Krankheit und Altern überhaupt erst leisten können muss, wird alles geboten, selbst Autoritäten, die sexuelle Beziehungen zu Minderjährigen unterhalten. Verknüpfungen zwischen Guntys Figuren in Vacca Valle können offenbar nicht absurd genug sein – und nicht alle Auftretenden konnten mich so berühren wie Blandine und ihre Jungs. Tess Gunty legt den Finger in die Wunde von Exzentrik, Einsamkeit und wirtschaftlichem Abstieg. Ein schonungsloser wie kapriziöser Roman, wegen der Gewaltszenen nicht uneingeschränkt zu empfehlen.

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